Die steuerliche Förderung von Mehrarbeit ist keine gute Idee

Meinung

Um mehr Personalkapazitäten zu schaffen, soll nach dem Willen der Ampelkoalition Mehrarbeit künftig gefördert werden. Zum einen dadurch, dass „Zuschläge für Mehrarbeit, die über die tariflich vereinbarte Vollzeitarbeit hinausgehen, steuer- und beitragsfrei gestellt (werden)“. Als Vollzeitarbeit gelten soll dabei „für tarifliche Regelungen eine Wochenarbeitszeit von mindestens 34 Stunden“, ansonsten eine Wochenarbeitszeit von 40 Stunden. Und auch die Teilzeitbeschäftigten sollen bedacht werden: „Wenn Arbeitgeber eine Prämie für die Ausweitung der Arbeitszeit zahlen, wird die Bundesregierung diese Prämie steuerlich begünstigen. Missbrauch werden wir ausschließen.“

Auf den ersten Blick scheinen diese Vorschläge einzuleuchten. Doch je länger man sie anschaut, desto schlechter sehen sie aus. Sieben Gründe, warum die steuerliche Förderung von Mehrarbeit der falsche Ansatz ist:

  • Mehr Arbeitszeit führt nicht unbedingt zu mehr Leistung
    Mehrarbeit ist nicht auf Dauer möglich – sonst wäre es ja keine Mehrarbeit. Vielmehr läge dann eine angehobene Dauer der Vertragsarbeitszeit vor, die zunächst einmal tarifvertraglich zulässig sein muss. Hierfür ein höheres Stundenentgelt zu zahlen, ist nicht nur rechtlich problematisch, sondern wegen der bei langen Arbeitszeiten tendenziell abnehmenden Produktivität auch wirtschaftlich kaum zu rechtfertigen. Dies alles schränkt das über Mehrarbeit gewinnbare Volumen entsprechend ein.
  • Mehrarbeitszuschläge können sich gegenteilig auswirken
    Mehrarbeitszuschläge sind gesetzlich nicht vorgeschrieben und kommen daher nicht überall zum Einsatz. Die avisierte Neuregelung könnte demnach dazu führen, dass mehr und höhere Mehrarbeitszuschläge gezahlt werden. Das wäre sicherlich im Sinne der Beschäftigten. Arbeitgeberseits könnte es jedoch eher zu einem restriktiven Einsatz dieses Instruments beitragen, um steigende Arbeitskosten zu vermeiden. Und damit zu weniger Mehrarbeit führen.
  • Geringe finanzielle Anreizwirkung
    Der übliche Mehrarbeitszuschlag liegt bei 25 Prozent. Dessen Steuer- und Abgabenfreiheit würde zum Beispiel bei einem Stundenentgelt von 20 Euro, einem Grenzsteuersatz von 30 Prozent und dem Arbeitnehmerbeitrag zu den Sozialversicherungen von insgesamt ca. 20 Prozent einem materiellen Vorteil von rund 2,50 Euro pro Stunde Mehrarbeit entsprechen. Das dürfte keine große Anreizwirkung entfalten – auch deshalb, weil die Mehrarbeitsstunde selbst ja unverändert mit (im Fallbeispiel) rund 50 Prozent belastet wird. Zu berücksichtigen ist außerdem, dass viele Beschäftigte mit relativ niedrigem Einkommen keine Lohnsteuer zahlen, was ihren materiellen Vorteil in unserem Beispiel auf zirka einen Euro pro Stunde Mehrarbeit reduziert.
  • Probleme bei Wissensarbeit und Homeoffice
    Der angekündigte Missbrauchs-Ausschluss, der sich – so meine Vermutung – nicht nur auf Aufstockungs-Prämien bei Teilzeitarbeit bezieht, dürfte angesichts der trotz gegenteiliger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts unterentwickelten Arbeitszeiterfassung gerade bei Wissensarbeit und Homeoffice erhebliche Probleme bereiten. So könnten künftig Prämien aller Art für die Beschäftigten einfach als Gegenleistung für Mehrarbeit verbucht werden – unabhängig von deren tatsächlicher Leistung. Daran hätte auch der Arbeitgeber ein gewisses Interesse, würde er auf diese Weise doch Sozialversicherungsbeiträge sparen. Und wie wäre es beispielsweise mit einem Mehrarbeitszuschlag von 100 Prozent, mit dem gleichzeitig die geleistete Mehrarbeit abgegolten wäre? Mit diesem Trick würde ein wesentlich höherer Nettovorteil erzeugt werden können. Das wird offenbar auch durch einschlägige wissenschaftliche Analysen eines ähnlichen französischen Programms aus dem Jahr 2007 bestätigt. Professor Sebastian Dullien, Direktor des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung, führte im Mai in einem Interview im Böckler Impuls 9/2024 aus, dass „die Zahl der geleisteten Stunden … damit nicht erhöht (wurde). Allerdings nutzten gut qualifizierte Besserverdienende die Vergünstigungen, um mehr Überstunden anzugeben und ihre Steuerlast zu senken.“
  • Rätselhafte Aufstockungsprämie
    Trotz der avisierten Förderung von Aufstockungs-Prämien für Beschäftigte mit verringerter Vertragsarbeitszeit (gegenüber der Regelarbeitszeit) könnte deren Benachteiligung bei Leistung von Mehrarbeit rechtlich zu Problemen führen. Und auch diese Förderung ist nicht unkompliziert. Wie oft kann sie beansprucht werden? Wie viel muss mindestens aufgestockt werden (Stunden oder prozentual)? Wie lange muss ein Arbeitnehmer in der vorherigen Vertragsarbeitszeit gearbeitet haben? Nehmen wir diesbezüglich beispielsweise zwei Jahre an. Dann entsteht durch die Förderung von Aufstockungs-Prämien ein Anreiz, entsprechend lange mit der Aufstockung zu warten, sodass hierdurch sogar Arbeitszeitvolumen verloren gehen kann.
  • Noch mehr Bürokratie
    Der steuer- und sozialversicherungsrechtliche Rahmen ist wahrhaftig schon komplex genug. Und da soll nun noch weitere Komplexität hinzukommen, die auch wegen der großen Missbrauchsgefahren unvermeidbar ist?

Wenn diejenigen, die dies wollen (!), mehr arbeiten sollen – und das sind ja vor allem Teilzeitbeschäftigte –, müssen die Rahmenbedingungen stimmen. Hier ist in erster Linie der Staat gefordert, aber auch Unternehmen haben ihre Hausaufgaben zu machen: Es braucht

  • bessere Angebote zur Betreuung von Kindern und pflegebedürftigen Angehörigen, um Betreuenden – derzeit in erster Linie Frauen – längere Arbeitszeiten zu ermöglichen;
  • eine Umgestaltung des Steuer- und Sozialversicherungssystems so, dass mehr Arbeitszeit immer zu einem spürbar höheren Netto-Verdienst führt. Dies erforderte unter anderem die Abschaffung der geringfügigen Beschäftigung;
  • mehr Arbeitszeitflexibilität – im Rahmen der derzeitigen gesetzlichen Grenzen, um die langfristige Leistungsfähigkeit aller Beschäftigten zu erhalten – und mehr Homeoffice-Optionen.

Ein wesentlicher Beitrag längerer Arbeitszeiten zur Bewältigung der demografischen Krise ist aber selbst unter optimalen Bedingungen nicht zu erwarten. Schon heute klagen viele Beschäftigte über eine zu hohe Auslastung und darüber, dass sie über ihre Vertragsarbeitszeit hinaus arbeiten müssen. Arbeitsunzufriedenheit und Fluktuation sind die Folge. Überstunden sind also eher Teil des Problems als Teil der Lösung.

Viel wichtiger sind die beiden anderen Hebel: Steigerung der Arbeitsproduktivität und eine höhere Zahl von Beschäftigten. Bei Ersterem geht es nicht nur um Digitalisierung und Robotisierung, sondern auch um die Vermeidung von Arbeitszeitverschwendung – insbesondere durch unzureichende Einsatzplanung, ständige Ablenkung und überflüssige Tätigkeiten. Bei Letzterem sollte die stärkere Integration von Frauen und Älteren in den Arbeitsmarkt im Vordergrund stehen. Dazu kann die jeweils weitestmögliche Flexibilisierung von Arbeitszeit und Arbeitsort einen großen Beitrag leisten – unterstützt durch die Abschaffung jeglicher Förderung von Frühverrentungen. Und last but not least müssen Unter- und Fehlqualifizierte sowie Migrantinnen und Migranten besser einbezogen werden, was (nicht nur) enorme Investitionen in Qualifizierungsprogramme erfordert.

Die Wachstumsinitiative ist laut Bundesregierung ein inhaltlicher Schwerpunkt des Haushaltsentwurfs 2025.

In der am 5. Juli 2024 vorgestellten Wachstumsinitiative heißt es auf Seite 13 zu „III Dynamisierung durch bessere Arbeitsanreize und mehr Fachkräfte“ unter Punkt 20:

„20. Mehrarbeit honorieren und Flexibilität ermöglichen: Die Bundesregierung wird die folgenden Maßnahmen umsetzen, um flexiblere Arbeitsmodelle zu ermöglichen und Mehrarbeit angemessen zu honorieren:

a) Damit sich Mehrarbeit auszahlt, werden Zuschläge für Mehrarbeit, die über die tariflich vereinbarte Vollzeitarbeit hinausgehen, steuer- und beitragsfrei gestellt. Als Vollzeitarbeit gilt dabei für tarifliche Regelungen eine Wochenarbeitszeit von mindestens 34 Stunden, für nicht tariflich festgelegte oder vereinbarte Arbeitszeiten von 40 Stunden.

b) Die Bundesregierung wird einen neuen steuerlichen Anreiz zur Ausweitung der Arbeitszeit von Teilzeitbeschäftigten schaffen: Wenn Arbeitgeber eine Prämie für die Ausweitung der Arbeitszeit zahlen, wird die Bundesregierung diese Prämie steuerlich begünstigen. Missbrauch werden wir ausschließen.

c) Die Bundesregierung wird eine begrenzte Möglichkeit zur Abweichung von den derzeit bestehenden Regelungen des Arbeitszeitgesetzes hinsichtlich der Tageshöchstarbeitszeit schaffen, wenn Tarifverträge oder Betriebsvereinbarungen auf Grund von Tarifverträgen dies vorsehen. Die Regelung wird befristet und evaluiert. Wir wollen bei der Weiterentwicklung des Arbeitsrechts Vertrauensarbeitszeit auch zukünftig möglich machen.

d) In den vergangenen Jahren blieb ein immenses Potenzial des Arbeitsmarktes auch aufgrund des erhöhten Krankenstandes der Arbeitnehmenden ungenutzt. Die Bundesregierung wird die während der Coronapandemie geltenden Sonderregelungen zur telefonischen Krankschreibung durch Arztpraxen überprüfen und ggf. im Rahmen einer möglichst bürokratiearmen Lösung anpassen.“

Quelle: Wachstumsinitiative – neue wirtschaftliche Dynamik für Deutschland, Bundesregierung, Juli 2024.

Weitere Beiträge zum Thema:

Unsere Newsletter

Abonnieren Sie die HR-Presseschau, die Personalszene oder den HRM Arbeitsmarkt und erfahren Sie als Erstes alles über die neusten HR-Themen und den HR-Arbeitsmarkt.
Newsletter abonnnieren
Dr. Andreas Hoff ist Inhaber der Dr. Hoff Arbeitszeitsysteme.. Er hat seit 1983 über 2.000 Arbeitszeit-Projekte aller Art persönlich begleitet – von Schichtsystemen über normale flexible Arbeitszeitsysteme und Vertrauensarbeitszeit bis hin zu Langzeitkonten.

Andreas Hoff

Andreas Hoff ist Berater für betriebliche Arbeitszeitsysteme. Der promovierte Volkswirt ­begleitet seit 40 Jahren Arbeitszeitprojekte aller Art persönlich – von Schichtsystemen über ­normale flexible Arbeitszeit­systeme und Vertrauensarbeitszeit bis hin zu Langzeitkonten.

Weitere Artikel