Mittleres Management: Zwischen Auslauf­modell und Transformations­beschleuniger

Transformation

Die fetten Jahre sind vorbei. Alle reden davon, wie viel sich für Unternehmen in den letzten Jahren geändert hat und welche Herausforderungen heute bewältigt werden müssen: Bewährte Geschäftsmodelle werden von heute auf morgen obsolet. Neue Wettbewerber aus der ganzen Welt sind nur einen Klick entfernt und erhöhen den Druck auf langjährige Marktführer. Akronyme wie VUCA oder BANI beschreiben unsere Welt als chaotisch, brüchig, komplex – ja unbeherrschbar. Das führt vor allem zu einem: Es herrscht Unsicherheit in deutschen Unternehmen.

Diese Unsicherheit lähmt – und sorgt manchmal dafür, dass weniger Entscheidungen getroffen werden. Von Garmisch-Partenkirchen bis Flensburg. Von der Unternehmensspitze bis zum Mitarbeiter an seinem Arbeitsplatz. Irgendwo dazwischen: das mittlere Management. Diese Führungskräfte versuchen aus der Mitte heraus für ihre Abteilungen Antworten auf Fragen der Transformation zu finden und Entscheidungslücken zu schließen. Manchmal auf erfinderische Art und Weise, wenn Stakeholder für Vorhaben mühsam begeistert und inspiriert werden müssen. Doch gelingt das? Erschwerend kommt hinzu, dass den Männern und Frauen des mittleren Managements der Ruf als Bewahrer, Bedenkenträger und Verhinderer vorauseilt – und ihre Rolle zunehmend infrage gestellt wird.

Agilität ist nicht alles

Die Methoden von New Work befeuern diese Diskussion. Teams beginnen sich mehr und mehr selbst zu organisieren. Die Erwartungen nach Mitbestimmung sind gestiegen – und müssen erfüllt werden, will man bestehende und potenzielle Mitarbeiter nicht verlieren. Product Owner verantworten Ergebnisse, der Scrum Master den Prozess und agile Coachs unterstützen die Veränderung und dabei, sich an neue Methoden zu gewöhnen. Wer braucht da noch eine Führungskraft? Hierarchien machen ohnehin behäbig, so die weitläufige Meinung. Dabei ist die Mehrheit der meisten Unternehmen noch immer genau so aufgestellt: hierarchisch. Und dieser Widerspruch ist das Problem: Agile Teams – so effizient sie auch sein mögen – treffen vielerorts auf klassische, manchmal dysfunktional gewordene Grundstrukturen und Umfelder. Und so gibt es viele Unternehmen, in denen zwar erfolgreich auf Projektebene pilotiert wird, der echte Anschluss zwischen Agilität und der DNA des Unternehmens aber ausbleibt. Komplexität und Widersprüchlichkeit in Unternehmen nehmen damit weiter zu. Und wer vermittelt dann zwischen diesen beiden Welten? Genau: die Frauen und Männer der mittleren Führungsebene. Die, die es eigentlich nicht mehr brauchen sollte.

Schlüsselrolle in der Transformation

Klar ist: Wenn Führungskräfte sich kein klares Profil geben und sie ihren Mehrwert zum Bewältigen der vor den Unternehmen liegenden Herausforderungen nicht herausstellen können, sind sie auf dem besten Weg, sich selbst abzuschaffen. Zu verführerisch scheint es bei steigendem Kostendruck, hier den Rotstift anzusetzen. Dabei können mittlere Manager und Managerinnen insbesondere für die schweren Aufgaben der Transformation eine Schlüsselrolle übernehmen – und langfristig ein gutes Investment sein. Es gibt viele Gründe, die dafürsprechen. Mittlere Führungskräfte sind sehr nah an den schmerzenden Stellen in den Bereichen und können erkennen, was es für die Behandlung dieser braucht. Legt man das Wissen aller mittleren Führungskräfte zusammen, würde man einen sehr präzisen – einen unverfälschten – Blick auf ein Unternehmen und seinen Transformationsbedarf erhalten. Damit steckt im mittleren Management die Chance, ein Unternehmen aus sich selbst zu verändern. So wie ein Frühwarnsystem.

Diese Führungskräfte sind an mehr neuralgischen Stellen präsent, als es das Topmanagement direkt oder indirekt sein kann, und sie haben gemeinsam die Kraft, Teams mitzunehmen und Botschaften plausibel zu machen. Das kann aber auch zum Problem werden: Die mittleren Führungskräfte nehmen in ihrem Arbeitsalltag viele unterschiedliche Rollen ein. Damit droht Überforderung. Vom Koordinator zum Motivator, vom strategischen Entwickler ihrer Abteilung bis hin zur Sicherstellung des operativen Geschäfts. Sie sollen Moderator, Trainer, Innovator, Controller sein – um nur ein paar Beispiele zu nennen. Alles anspruchsvolle Aufgaben, die für den Erfolg einer Transformation entscheidend sind und Beidhändigkeit zwischen Operative und Strategie erfordern. Aber eben auch konkrete Skills sowie Mut und Durchhaltvermögen.

Symbiose zwischen Top- und mittlerem ­Management

Insbesondere das strategische Gewicht gilt es in der Rolle der mittleren Manager fester zu verankern – in der Wahrnehmung, aber eben auch in den Prozessen und Strukturen. Zumindest für die, die mit der beschriebenen Beidhändigkeit umzugehen wissen. In der Praxis könnte das wie folgt aussehen: Ausgewählte mittlere Manager werden zum Capcoach. Sie sind also Captain und Coach zugleich – und tragen konkrete Verantwortung für die Definition und Umsetzung von Transformationsaufgaben. Captain, weil sie den Weg zu einem konkreten Ziel definieren. Coach, weil sie das eng mit ihrem Team tun und dieses befähigen, wann immer notwendig.

Damit werden sie unmittelbarer Counterpart zur obersten Unternehmensleitung, weil sie strategische Verantwortung erhalten. Das Ergebnis: eine institutionalisierte Symbiose zwischen Top- und mittlerem Management. Wir haben hierzu das 3C-Modell entwickelt: Die Capcoaches sind eines der drei Cs. Sie agieren zusammen mit dem Vorstand – also den Chief Officers und damit dem zweiten C im Modell –auf Augenhöhe. Damit gibt der Vorstand primär den Rahmen für die weitere Entwicklung vor. Das „Wie“ wird durch die Capcoaches erarbeitet, um gemeinsame Ziele und Werte in Form einer klaren Haltung zu einen. Das dritte C steht für Core (Kern) und für die Mitarbeitenden, denen Capcoaches und Chief Officers Handlungssicherheit in unseren unsicheren Zeiten geben.

Goodbye, Hierarchie-Pyramide!

Damit kippen wir die Hierarchie-Pyramide, die bislang noch immer die bestimmende Form in deutschen Unternehmen ist. Stattdessen denken wir Unternehmen vom Kern aus – von den Mitarbeitenden. Streng genommen gibt es dann kein oben und unten mehr – und damit auch kein „Die da oben“ oder „Die da unten“. Es macht klar: Jeder leistet im und um den Nukleus des Unternehmens seinen Beitrag zur Transformation. Gleichzeitig ist innerhalb des Kerns Raum für Agilität und Teams, die themen- und projektbezogen – ähnlich wie Moleküle – immer wieder neu zusammenkommen.

Damit sind wir schon bei einem wichtigen Mehrwert des Modells: Es stärkt Menschen, die Einflüsse ausbalancieren und Strategie und Umsetzbarkeit zusammenbringen. Es verteilt die Last auf mehr Schultern, die tragen können. Und auf mehr Köpfe, die entscheiden können. Es ist ja Irrsinn, immer auf wenige Heilsbringer und Erkenntnisse von oben zu hoffen. Ebenso der Glaube, die gesamte Last nur auf die Arbeitsebene verlagern zu können. Wenn ein mittlerer Manager das Verbindende leisten kann, macht es Organisationen in jedem Fall leistungsfähiger – und damit transformationsstärker.

Neue Standards für die Führungskräfte­entwicklung

Es geht darum, die Fähigkeiten und die Rolle mittlerer Manager zu stärken, weil sie an einer wichtigen Sollbruchstelle sitzen – und die letzten Jahre zu wenig Aufmerksamkeit erfahren haben. Und genau hier kommen die HR-Verantwortlichen ins Spiel. Nachwuchs-Führungskräfte-Programme gelten als Standard, doch was ist mit Angeboten für „alte Hasen“?
Gleichzeitig ist auch klar: Nicht jeder mittlere Manager ist für die Rolle des Capcoaches – den man auch Transformations-Multiplikator nennen könnte – geeignet. Es geht darum zu verstehen: Wer hat das Unternehmen aus der Mitte heraus die letzten Jahre bereits nach vorne gebracht?

Und wer hat den Mut und die Skills, auch zukünftige Transformationsaufgaben zu erkennen und anzugehen? Und zuletzt geht es auch darum, vorhandene Strukturen zu hinterfragen und neue zu Ende zu denken. Wir treten mit dem 3C-Modell also nicht in Konkurrenz mit agilen Methoden. Im Gegenteil: Wir versuchen die Anbindung agiler Konstrukte zur Unternehmensleitung, vorhandenen Hierarchie-Formen und übergeordneten Zielen zu konkretisieren. Eine bislang ungelöste Frage. Die Rolle der Capcoaches kann helfen, agile Streams zu synchronisieren, und verdient es, ausprobiert zu werden. Lasst uns die mutigen und willigen mittleren Manager als Transformationsbeschleuniger nutzen und ihre Rolle feinjustieren – anstelle sie abzuschaffen. Wir werden sie noch brauchen.

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Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Branding. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Karoline Haderer

Karoline Haderer hat in Wien und Buenos Aires Betriebswirtschaft studiert und 2004 an der Karl-Franzens-Universität Graz in Sozial- und Wirtschaftswissenschaften promoviert. Nach Stationen bei KPMG und Energie Baden-Württemberg war sie Marketingleiterin bei der Südhessische Energie. Seit 2015 verantwortet sie die (Marken-)Transformation der Nürnberger Versicherung. Sie ist Co-Autorin von Transformation durch das mittlere Management. Raus der Underdog-Rolle: Praxiserprobte Strategien für schnelle und dauerhafte Transformationserfolge (Haufe, 2023).

Philipp Hilse

Philipp Hilse hat an der Hamburger Texterschmiede das Handwerk des Werbetexters gelernt. Nach Stationen in Agenturen in Hamburg und der Metropolregion Nürnberg als Texter und Projektmanager wechselte er 2012 zur Nürnberger Versicherung und hat den Wandel des Unternehmens aus verschiedenen Positionen heraus begleitet – insbesondere als Leiter der internen Kreativagentur. 2021 absolvierte er den MBA in Management & Communication an der Münchner Marketing Akademie und der FH Wien. Er ist Co-Autor von Transformation durch das mittlere Management. Raus der Underdog-Rolle: Praxiserprobte Strategien für schnelle und dauerhafte Transformationserfolge (Haufe, 2023).

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