„Es war sicherheitspolitisch noch nie so ernst wie heute“

Interview

Frau Dr. Schilling, seit dem Krieg in der Ukraine steht die Bundeswehr stark im politischen und medialen Fokus. Welche Auswirkungen hat die von Bundeskanzler Olaf Scholz ausgerufene Zeitenwende auf die Personalpolitik der Bundeswehr?
Dr. Nicole Schilling: Für uns ist das Entscheidende, dass wir sehr schnell in der Lage sein müssen, auf eine verschärfte Sicherheitslage zu reagieren. Das heißt, wir müssen mit Blick auf unseren Personalbestand schnell wachsen. Die vergangenen Jahrzehnte waren nach Ende des kalten Kriegs eher vom Personalabbau geprägt.

Es wird derzeit viel über die Kriegstüchtigkeit der Bundeswehr diskutiert. Wie beurteilen Sie die weltpolitische Lage und wie ist die Stimmung derzeit in der Bundeswehr angesichts dessen?
Ich glaube, dass die Bedrohungslage so schwierig ist wie die letzten 30 Jahre nicht. Es war sicherheitspolitisch noch nie so ernst wie heute. Die Stimmung ist deswegen nicht schlecht, aber natürlich auch nicht besonders euphorisch. Es herrscht so eine gewisse Aufbruchstimmung. Wir sind dabei, uns alle miteinander bereit zu machen, weil wir sehen, dass der Grund, warum wir Soldaten, Soldaten oder zivile Beschäftigte in der Bundeswehr geworden sind, tatsächlich jetzt wieder mehr zum Tragen kommt, als das vielleicht für die Menschen in unserem Land schon sichtbar ist.

Die Stationierung einer 5.000 Frauen und Männer starken Brigade an der NATO-Ostflanke in Litauen ist eine Konsequenz des Aufbruchs. Bis 2027 soll die Gruppe komplett sein, bereits Mitte nächsten Jahres sollen der Brigadestab und die ersten Bataillone verlegt sein. Wie wird die Stationierung aus Personalsicht organisiert?
Wir gehen Zug um Zug vor, so wie die Litauer aufnahmefähig sind. Die litauischen Streitkräfte haben nicht so viele Kasernen, die sie uns freimachen können. Das heißt, da muss neu gebaut werden. Wir bringen in enger Zusammenarbeit mit den litauischen Partnern immer die Truppenteile nach Litauen, die dort untergebracht können. Es ist bereits ein Einsatzkontingent stationiert, das von der Bevölkerung sehr offen aufgenommen wurde. Wir wissen, dass wir unseren Soldatinnen und Soldaten eine Menge persönliche Härten abverlangen, die wir versuchen müssen, abzufedern. Ich bin aber zuversichtlich, dass die personelle Besetzung funktionieren wird.

Inwieweit sind Sie in Ihrer Funktion damit befasst?
Das passiert konkret im Bundesamt für das Personalmanagement, meinem vorigen Einsatzbereich. Seit einigen Wochen bin ich stellvertretende Abteilungsleiterin im Bundesverteidigungsministerium. Meine Aufgabe ist es heute, die Rahmenbedingungen mitzusetzen, indem wir Vorschriften oder Erlasse anpassen oder Gesetzesvorlagen schreiben. Wenn wir jetzt 5.000 Menschen mit Familie nach Litauen bringen, brauchen die Menschen vorher Gewissheit, wie es nach dem Einsatz weitergeht. Dafür müssen wir hier im Ministerium die Voraussetzung schaffen.

Wie kamen Sie als Ärztin zum Personalmanagement?
Ich habe erst eine ganz normale militärische Ausbildung absolviert, auch auf dem Truppenübungsplatz und mit der Waffe in der Hand. Ich sage das deswegen, weil erst mit dem Urteil von 2001 alle Laufbahnen bei der Bundeswehr für Frauen geöffnet wurden. Es gab aber auch vorher schon Frauen bei den Streitkräften. Nach meinem Medizinstudium habe ich im Bundeswehrkrankenhaus und bei unseren Truppenärzten eine Facharztausbildung gemacht, anschließend als Allgemeinmedizinerin eine Sanitätseinrichtung für Soldatinnen und Soldaten mit circa 40 Mitarbeitenden geleitet. Dann bin ich ins Personalmanagement beim Sanitär gerutscht und war zunächst zuständig für unsere Studenten und Studentinnen.

Sie sind im Personalbereich hängen­geblieben und hatten zuletzt die Personalverantwortung für nahezu alle der 260.000 Beschäftigen in der Bundeswehr.
Natürlich als Stellvertreterin für meine Präsidentin und mit einem gewissen Schwerpunkt auf das militärische Personal, da sie Beamtin ist und ich Soldatin bin. Jetzt im Ministerium ist es ähnlich. Meine Abteilungsleiterin ist auch Beamtin, ich bin ihre Stellvertreterin und Soldatin, deswegen kümmert sie sich mehr um die zivilen Themen und ich mich mehr um die militärischen.

Sie sind die ranghöchste Soldatin bei der Bundeswehr. Haben Sie eine Vorbildfunktion für andere Frauen?
Wir haben inzwischen etwa 24.000 Soldatinnen, von insgesamt 180.000 Streitkräften. Ich wollte es nicht unbedingt werden, aber natürlich sehen mich Frauen als Vorbild für eine eigene mögliche Laufbahn. Diese Rolle habe ich auch gerne angenommen.

Von den 260.000 Beschäftigten sind rund 70.000 Zivilisten und rund 180.000 Soldatinnen und Soldaten. Und letztere Gruppe soll bis 2031 auf 203.000 wachsen. Mit welchen Maßnahmen wollen sie das Ziel erreichen?
Zum einen wollen wir den Einstieg flexibilisieren und erleichtern. Zum anderen wollen wir diejenigen, die bleiben wollen, stärker an uns binden. Es ist nicht so, dass uns die Soldatinnen und Soldaten weglaufen. Viele haben durchaus den Wunsch, länger zu ­dienen.

Sie müssten jedes Jahr 20.000 Menschen einstellen, nur um den Personalbestand auf jetzigem Niveau zu halten.
Richtig, und das ist auf die Dauer nicht demografiefest. Wir werden uns überlegen müssen, wie wir es künftig besser hinbekommen, vielleicht weniger Menschen einzustellen, dafür aber mehr auf die Bindung zu setzen. Momentaner Schwerpunkt unserer Rekrutierungsaktivitäten ist der Fachkräftemarkt für Menschen, die in unserem System militärisch und zivilberuflich sechs Jahre ausgebildet werden. Das müssen wir im Ministerium auf den Prüfstand stellen und hinterfragen, das ist wichtig, damit sich der Ausbildungsaufwand auf das konzentriert, was für die Aufgabe tatsächlich benötigt wird und somit die Ausbildungszeit in einem guten Verhältnis zur Dienstzeit in den konkreten Job steht.

Wie stehen Sie zu den Debatten, die Grundwehrpflicht wieder aufleben zu lassen?
Es ist eine Option, um den Anteil der Menschen in Deutschland zu erhöhen, die mal soldatisch ausgebildet worden sind. Ich weiß, dass das für den Großteil der Menschen in Deutschland weit weg ist. In der Ukraine war die Vorstellung, Objekte vor einem tatsächlichen militärischen Angriff schützen zu müssen, auch vor fünf Jahren noch weit weg. Eine Dienstpflicht oder ein freiwilliger Wehrdienst von einem Jahr kann eine Grundbefähigung sicher­stellen und die Zahl der Reservisten erhöhen. Das werden wir auch brauchen, aber für unsere Fachkräftebedarfe ist es nur eine mittelbare Lösung.

Mit welchen Erwartungen kommen junge Menschen, die eine Karriere bei der Bundeswehr anstreben?
Es ist kein Geheimnis, dass wir gerade in den ersten Wochen und Monaten in der militärischen Laufbahn viele wieder verlieren. Momentan liegen wir bei über 25 Prozent. Es gibt den zivilberuflichen Anreiz, bei uns eine Ausbildung zu absolvieren, manche haben Abenteuerlust und andere suchen nach Sinnstiftung und wollen bei uns einen Beitrag für die Gesellschaft leisten. Gerade, wenn es um die militärische Laufbahn geht, spielt die körperliche Leistungsfähigkeit natürlich auch eine Rolle. Da trauen sich auch nicht alle alles zu. Manche trauen sich auch mehr zu, als sie dann tatsächlich hinkriegen. Deshalb ist das Onboarding tatsächlich eine ziemlich heikle Geschichte.

Die Bundeswehr ist mit ihren hierarchischen Strukturen, Dienstgraden und Uniformen aber auch eine Welt für sich.
Wir sind sehr hierarchisch, ja. Aber das gibt auch Orientierung, ein gewisses Fundament und Sicherheit. Viele Unternehmen sind heute hierarchiearm, alle duzen sich und man sieht auch auf den ersten Blick nicht, wer was zu sagen hat. Das geht bei uns schneller. Dieser Rahmen ist gesetzt, und der hat auch seinen Sinn. Dies ist auch im Rettungsdienst so. In bestimmten Situationen müssen alle funktionieren und eine Person hat das Sagen. Da ist es auch unstreitig, dass man da jetzt nicht zu einer Teamentscheidung kommt, sondern Zackzack machen muss, um ein Menschenleben zu retten. So ähnlich ist es bei uns. Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch, dass wir jungen Menschen die Möglichkeit geben, früh Verantwortung zu übernehmen, und sie dort auch strukturiert hinbringen.

Eines unserer Grundprinzipien ist es, dass man grundsätzlich im niedrigsten Dienstgrad seiner Laufbahn einsteigt. Das heißt, als ich Soldatin geworden bin, habe ich im gleichen Dienstgrad wie jeder Wehrdienstleistende angefangen. Das trifft auch auf den heutigen Generalinspekteur General Carsten Breuer zu, den derzeit ranghöchsten Soldaten der Bundeswehr. Auch als spätere Führungskraft durchläuft man grundsätzlich alle Ebenen. Das erhöht auch die Bereitschaft, sich in Situationen führen zu lassen, wo es um Leib und Leben geht. Hierarchie bedeutet bei uns nicht, nur stumpf auf sich selbst zu gucken und zu denken, ich habe Chefs, die mir sagen, was ich tun soll. Sondern man wird immer so ausgebildet, dass man die Sichtweise seiner Vorgesetzten mitdenken muss.

Inwieweit macht sich New Work bei der Bundeswehr bemerkbar?
Wir hatten immer den Grundsatz: Personal folgt der Aufgabe. Wo es Aufgaben gab, wurden die Bataillone stationiert. Heute gibt es viel mehr Mitwirkungsanspruch der Soldatinnen und Soldaten. Das merken wir im Personalmanagement deutlich. Die Menschen sind heute nicht bereit, sich mal eben 800 Kilometer kreuz und querdurch die Republik versetzen zu lassen, wenn wir dafür nicht eine wirklich gute Begründung liefern und etwas bieten können. Wenn es auf hart kommt, müssen alle los und das werden sie auch. Dafür haben sie aber den Anspruch, dass im Grundbetrieb auch Dinge wie Homeoffice ermöglicht werden.

Was passiert, wenn Sie die erforderlichen Kräfte nicht rekrutieren können, und sich die Krise zuspitzt, das heißt, es möglicherweise einen Bündnisfall gibt?
Wir haben auf der einen Seite natürlich mehrere 100.000 Reservisten. Wir ziehen diese heute schon wieder zu Übungen heran und verstärken die Anbindung an die Ehemaligen. Dass Deutschland es zulassen wird, nicht verteidigungsfähig zu sein, kann ich mir nicht vorstellen. Und wenn es über die Freiwilligkeit nicht reicht, dann werden andere Mechanismen greifen können und politische Entscheidungsprozesse anlaufen. In den vergangenen Monaten ist gemeinsam mit den Bundesländern und den Kommunen der OPLAN Deutschland – Operationsplan Deutschland zur Verteidigung von für die Aufrechterhaltung der Verteidigungsfähigkeit benötigter Infrastruktur der Bundesrepublik Deutschland im Spannungs- und Verteidigungsfall – erarbeitet worden.

Aber unabhängig von der Dienstpflicht und der Diskussion, ob man Soldatin oder Soldat werden will, gibt es Aufgaben, die nicht klassisch mit Militär zu tun haben, die aber auch gemacht werden müssen, im Zivilschutz, im Katastrophenschutz. Das ist in den letzten Jahrzehnten auch ein bisschen kurz gekommen. Mein Appell an alle ist, sich zu überlegen: Was wäre denn mein Beitrag, den ich leisten könnte, wenn es zu einer Verschärfung der Lage käme – und davon müssen wir bedauerlicherweise inzwischen ausgehen. Und wenn wir das alle gemeinsam tun, dann bin ich sehr, sehr zuversichtlich.

Über die Gesprächspartnerin:

© BWPIZ PersonalMetka

Nicole Schilling ist promovierte Medizinerin, Generalstabsärztin und seit Juni stellvertretende Abteilungsleiterin des Verteidigungsministeriums. Zuvor hatte sie ab 2019 den Posten als Vizepräsidentin des Bundesamtes für das Personalmanagement der Bundeswehr in Köln inne und war zudem ab 2022 ständige Vertreterin der Präsidentin dieses Bundesamtes. Schilling trat bereits 1993 in die Bundeswehr ein, durchlief die Grundausbildung und startete mit einem Medizinstudium an der Justus-Liebig-Universität in Gießen zunächst eine medizinische Laufbahn. Schilling war zudem in Auslandseinsätzen, unter anderem in Afghanistan oder Bosnien-Herzegowina, tätig.

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Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Weltweit. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Sabine Schritt ist leitende Redakteurin beim Human Resources Manager.

Sabine Schritt

Sabine Schritt ist leitende Redakteurin des Magazins Human Resources Manager. Sie war zuvor 25 Jahre als freie Journalistin tätig. Nach verschiedenen Stationen im Tagesjournalismus und bei Ratgeber- und Lifestyle-Publikationen, beschäftigt sie sich seit über 15 Jahren intensiv mit Themen rund um die Arbeitswelt, HR und Führung. Die gebürtige Kölnerin war zudem bis 2012 stellvertretende Chefredakteurin des Schweizer Fachmagazins HR Today in Zürich. Anschließend war sie zehn Jahre als freie Redakteurin für das Fachmagazin Personalführung tätig. Sabines besonderes Interesse gilt den Aspekten:  Zusammenarbeit, Kommunikation, digitale Transformation, Kulturwandel in Unternehmen, Rollenverständnis von HR, Persönlichkeitsentwicklung.

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