Bessere Lösungen für HR

Start up, HR!

Ein verbeamteter Wissenschaftler aus dem Bereich Personal und die Gründerin eines HR-Startups gehen in ein Café. Klingt wie der Anfang eines schlechten Witzes, oder? Beamter und Unternehmerin. Sicherheit und Risiko. Der Fels in der Brandung (unbeweglich) und die Surferin (die Welle machen). Gründlich (und never) versus quick (and dirty).

Vielleicht gibt es solche grundsätzlichen Gegensätze. Wirtschaftlichkeit und Tempo auf der einen Seite, Wissenschaftlichkeit und Gründlichkeit auf der anderen. Aber es gibt auch viele Gemeinsamkeiten: Die Liebe zu datenbasiertem HR, die Neugier, die Analysefähigkeit, die Leidenschaft. Der Wille, bestehende Verfahren und Prozesse zu verbessern, neue Technologien zu entwickeln, Neuerungen in die Arbeitswelt zu bringen. Der Wunsch, besser zu werden.

Die Wissenschaft als Partner: Will ich das wirklich?

Wie kommen Wissenschaft und Gründergeist zusammen? Zunächst sollten sich Gründerinnen und Gründer überlegen, ob sie überhaupt an einer wissenschaftlichen Fundierung ihrer Angebote interessiert sind. Denn weder die Sinnhaftigkeit, noch die Qualität eines Angebots ist notwendige Voraussetzung für den Verkaufserfolg.

Der Mensch ist kein Homo Oeconomicus. Niemand muss der Gesundheit zuliebe, mit Vitaminen angereichertes Wasser kaufen. Die meisten Menschen brauchen keine Nahrungsergänzungsmittel. Wissen­schaftlerinnen und Wissenschaftler bemängeln, dass die zugesetzten Vitamine – sofern vorhanden – vom Körper oft nicht aufgenommen werden. All das wird die Kundschaft in ihrer (Social Media-)Blase nicht erfahren. Dank „data-driven“-Marketing erhalten sie nur solche Informationen, die ihre Kaufentscheidung stützen. Vitaminwasser dient nicht der Gesundheit und verbessert nichts. Es dient dazu, dass einige Menschen sich am Verkauf bereichern.

Wie das moralisch zu bewerten ist, muss jeder Mensch für sich selbst entscheiden. Bei Start-ups im Bereich HR-Tech hoffentlich unter Berücksichtigung der ethischen Verantwortung gegenüber den Betroffenen. Vitaminwasser schadet zumindest nicht. Eine ehrliche Selbstreflexion, ob man an einer wissenschaftlichen Fundierung interessiert ist, ist die Voraussetzung für eine mögliche Zusammenarbeit zwischen Unternehmen und Wissenschaft. Man kann sowohl mit geschickt vermarktetem Vitaminwasser reich werden als auch mit wissenschaftlich fundierten Immuntherapien zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten.

Wissenschaftliche Fassade

Um es auf den Punkt zu bringen: Es gilt zu klären, ob wirklich der Erkenntnisgewinn im Vordergrund steht oder ob nur ein wissenschaftlicher Anstrich fürs Marketing erwünscht ist. Letzteres ist auch ohne realen Erkenntnisgewinn problemlos möglich. Neben der Wissenschaft hat sich längst eine Industrie etabliert, die die Illusion von Wissenschaftlichkeit verkauft. Es gibt Verlage, die pseudowissenschaftliche Zeitschriften herausgeben, in denen vermeintliche Fachartikel gegen Bezahlung abgedruckt werden. Man kann – kostenpflichtig – auf potemkinschen Wissenschaftskon­gressen Vorträge halten. Selbst in ehemals renommierten Wissenschaftsverlagen kann man – bringt man das nötige Entgelt auf – Bücher zur vermeintlich hohen Qualität der eigenen Schnell­schuss-Produkte und Dienstleistungen publizieren lassen. Wer einen Professorentitel unter Marketinggesichts­punkten für nützlich hält, wird in privaten sowie staatlichen Fachhochschulen und Hochschulen mühelos mit entsprechenden Epauletten dekorierte Personen finden, die subaltern für eine Publikation zur Verfügung stehen.

Wissenschaft als Trugbild, das die Illusion von Qualität hervorruft – Gründerinnen und Gründer, die daran intere­ssiert sich, sollten sich vertrauensvoll an die Marketing-Abteilung wenden. Kontakt zu Wissen­­schaftlerinnen und Forschern bedarf es nur, wenn man an wirklichen Erkenntnissen interessiert ist. Wenn man intellektuell stimuliert werden will. Wenn man seine Gedanken klarer fassen will. Wenn man wissen will, ob sich die eigenen Einfälle in größere Ideengebäude (Theorien) einordnen lassen. Wenn man sich eine unabhängige Prüfung des eigenen Produkts, der Dienstleistung wünscht. Wenn man über die Ambition verfügt, tatsächliche Verbesserungen hervorzurufen. Wenn man wirklich wissen will, ob das stimmt, was man behauptet. Wenn man sich für die möglichen Folgen der Nutzung der vertriebenen Services interessiert. Dazu muss man bereit sein, empirische Ergebnisse zu akzeptieren. Bereit sein, die eigenen Überzeugungen zu korrigieren – und gegebenenfalls auch aufzugeben.

Transparenz und Ehrlichkeit

Wie bei jeder Zusammenarbeit ist es wichtig, sich vorab auf sein Gegenüber und dessen Welt einzustellen und die Spielregeln der Kooperation zu klären. Mögliche Interessenskonflikte sind von Anfang an offen zu thematisieren. Dazu gehört im Fall gemeinsam durchgeführter Studien auch das Thema der Finanzierung. Die Unabhängigkeit der Forscher ist größer, wenn Forschungsarbeiten nicht durch die Unternehmen finanziert werden. Aber es ist auch nicht zu rechtfertigen, dass von Steuergeldern finanzierte Wissenschaftlerinnen kostenlos Studien durchführen, von denen Unternehmen privat profitieren. Auch die Frage der Transparenz möglicher Studienergebnisse muss vor Beginn der Kooperation geklärt sein.

Seitens der Wissenschaft ist ebenfalls eine gewisse Veränderungsbereitschaft notwendig, damit die Zusammenarbeit gelingt. Dazu gehören die Bereitschaft, sich praxisrelevanten Fragen zu öffnen, die Kontrolle über die Datenerhebungsbedingungen etwas aus der Hand zu geben (zum Beispiel Untersuchungen im „Feld“ statt im Labor) und Bedingungen auszuhandeln, die den Interessen der Unternehmen ebenso Rechnung tragen wie der Autonomie der Wissenschaft.

Beide Seiten sollten Räume für Begegnungen schaffen. Ein Wissenschaftler aus dem Bereich Personal und die Gründerin eines HR-Startups gehen in ein Café – echt jetzt!

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Martin Kersting

Martin Kersting ist promovierter Psychologe und Professor für Psychologische Diagnostik an der Justus-Liebig-Universität in Gießen und berät Organisationen in Fragen der Personalpsychologie.

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