Circus Sonnenstich: Eine andere Lesart von KI

Kreativ und Imperfekt

Mein Startpunkt für eine neue Lesart von KI liegt im Januar 2020 – als ich für den Podcast KI – Kreativ und Imperfekt interviewt wurde. In diesem Gespräch hatte ich erstmals die Gelegenheit, Gedanken zum Wesen und Wert des Imperfekten zu entfalten. Das inspirierte mich auch dazu, auch für mich das Kürzel KI neu zu füllen: als kreativ imperfekte Haltung auf der Basis von Körper-Intelligenz. Ich halte es für wertvoll und nachhaltig, KI mit künstlerischer Intelligenz zu verbinden. Umso mehr, weil die Intelligenzen von Menschen mit (aber auch ohne) Trisomie 21 in Bildungssystemen, der Arbeitswelt und Gesellschaft weder erkannt noch angemessen gefördert werden.

Circus Sonnenstich: Selbstbewusst anders sein

Ein Blick zurück auf den Personalmanagementkongress 2023: Auf der Bühne stehen sechs Sonnenstich-Künstler und -Künstlerinnen mit Trisomie 21. Drei davon sind erst das zweite Mal in ihrem Leben auf der Bühne. Es sind die Jugendlichen Luzian Bücker, Neo Spohn und Elias Massing, die mit der größten Selbstverständlichkeit der Welt ihre „Diabolo“-Künste präsentieren. Sie lassen ihre Zirkusgeräte in verblüffenden Trick-Kombinationen mit atemberaubender Geschwindigkeit durch die Lüfte sausen. Die Artisten verlassen sich dabei bedingungslos aufeinander.
Ihr Körperbewusstsein, ihre entspannte Freude und ihre Fähigkeit, eine tiefe Verbundenheit mit dem Publikum zu erzeugen, faszinieren das Publikum. Menschen mit Trisomie 21 wird offiziell der Terminus „intellektuell beeinträchtigt“ zugeordnet. Das steht jedoch in einem merkwürdigen Kontrast zu der Professionalität der Künstlerinnen und Künstler. Die Zirkusarbeit mit Künstlern mit Trisomie 21, die als beeinträchtigt gelten, aber viel mehr behindert werden, von sozialen und gesellschaftlichen Strukturen, hat mich unter anderem gelehrt, zu meinem eigenen Imperfektsein zu stehen. In der Anerkennung meiner Unvollkommenheit kann ich in einem kontinuierlichen dialogischen Research mit den Artisten meinen Werkzeugkoffer zur Vermittlung von Bewegungstechniken, Kommunikations- und Gestaltungsformen immer weiter verfeinern. In unserer Sonnenstich-Arbeit lernen wir so viel voneinander, weil wir uns in unserem Anderssein gegenseitig herausfordern. In Trainings- und Produktionsprozessen funktionieren „normale“ Zugänge zur Zirkusarbeit oft nicht. Wenn wir scheitern, schauen wir gemeinsam darauf: Wie können wir Bewegungsabläufe so vermitteln, dass sie jeder Mensch begreifen kann? So wird Imperfektion zur Grundlage neu entwickelter Lösungswege. Im Zulassen des Imperfekten öffnen sich Wahrnehmungsebenen dafür, wie verschieden man mit Dingen umgehen, sie begreifen und verstehen kann.

Einen erweiterten Zugang zum Thema Intelligenz liefert uns James Bridle in seinem Buch Die unfassbare Vielfalt des Seins. Jenseits menschlicher Intelligenz, in dem er im Kontext von KI die überwältigenden Intelligenzformen von Tieren, Pflanzen und Körperzellen beschreibt. Er konstatiert im Kapitel Anders denken, die wahre Bedeutung künstlerischer Intelligenz zu hinterfragen: „Wirkliche Intelligenz existiert überall und zwischen allem“ und „Intelligenz ist etwas Körperliches und Rationales, kein abstrakter Prozess, sondern ein eng mit unserem Sein und Tun verbundener Vorgang.“

Komplementärer Dreiklang

Ende Januar 2024 stehen die jugendlichen Künstler und Künstlerinnen erneut auf der Bühne. Sie treten mit ihrem Sonnenstich-Ensemble im Rahmen der internationalen Performance-Reihe Play im Berliner Chamäleon Theater auf. Ihre Show trägt den Namen Journey to Mimoto. Mimoto ist japanisch und bedeutet Identität. Dieses Mal bilden die Künstlerinnen und Künstler auch das Autorenteam. Sie zeigen ihre Heldenträume mit ihren Diabolos und auf Lauf-Kugeln. Wir haben sie befragt, was sie ihrem Publikum mitteilen möchten und was ihnen besonders wichtig ist:

  • „Wir brauchen Kontakt. Jeden Tag. Kontakt gibt uns
    Augen.“ (Neo Spohn)
  • „Ich liebe meinen Mund.“ (Elias Massing)
  • „Die Seele schenken.“ (Luzian Bücker)

Das ist ein komplexer und komplementärer Dreiklang: Neo Spohn begreift, dass wir für ein Sehen und Verstehen einen direkten Kontakt mit uns selbst und anderen Menschen brauchen. Elias Massing preist seinen Mund, weil er sich damit mit anderen Menschen im Dialog frei austauschen kann. Und dazu brauchen wir einen Zugang zu den tiefen Schichten unserer Seele, was Luzian Bücker spielerisch leicht gelingt.

Weites Spektrum an Intelligenzen

Diese Seinsweisen der Sonnenstich-Künstler passen gut zu modernen Intelligenztheorien. Als Spätfolge der Vermessung menschlicher Gehirne im 19. Jahrhundert nimmt der Intelligenzquotient (IQ) auch heute noch in Schule und Gesellschaft zu viel Raum ein. Neben ihrem hohen Emotionsintelligenzquotienten (EQ) zeichnen sich die Sonnenstich-Artisten durch einen hohen „physical body awareness and skillful use“-Quotienten (PQ) und „spirituality as inner wisdom guided by compassion“-Quotienten (SQ) aus. Warum schenkt die Gesellschaft diesen Aspekten von Intelligenz so wenig Aufmerksamkeit? Im Circus Sonnenstich findet all das seinen natürlichen Platz. Wir entwickeln unsere Methoden aufbauend auf den kognitiven Strukturen von neurodiversen Menschen, mit denen wir im Dialog arbeiten. Dadurch entsteht eine große Freiheit: Wir verlassen unsere gesellschaftlich eingeübten, binären Denkmodelle. Stattdessen tauchen wir in die Welt von Menschen ein, die das Sein anders erleben und erfassen. Wir schaffen Räume, in denen sie sich entfalten können. Inklusion bedeutet für uns, dass wir die Welt mit ihren Augen neu begreifen und von ihnen lernen können. Zirkusplus, die Online-Plattform für zeitgenössischen Zirkus, hat im Februar 2024 über unsere Show Journey to Mimoto getitelt: „Die Reise zum Ich im inklusiven Wir“. Ein vielleicht überraschender Gedanke: Wir können unser Ich erkennen und erleben, wenn wir uns in einem inklusiven Rahmen auf den Weg zu unserem inneren Selbst begeben.

Das Modell „Belonging“

Im Circus Sonnenstich arbeiten wir entlang der Theorie U von Claus Otto Scharmer. Um Neues gestalten und in die Welt hinaus tragen zu können, müssen wir die Stimmen der Beurteilung, der Distanzierung und der Angst hinter uns lassen und uns am Quellpunkt unseres Seins für unser Wollen und unseren gemeinsamen Willen öffnen. Scharmer beschreibt die dafür notwendigen Qualitäten:

  • eine soziale Grammatik: eine Sprache
  • eine soziale Technik: Methoden und Instrumente
  • ein neues Narrativ von sozialem Wandel

Die ersten beiden Qualitäten entwickeln wir auf der Basis unserer eigenen In.Zirque-Didaktik, die eine komplexe Sprache für künstlerisches Bewegungslernen ist und mit der wir Mitarbeiter mit Trisomie 21 zu Artisten und Assistenz-Trainern ausbilden. Das neue Narrativ als dritte Qualität können wir mit dem Unternehmenskonzept DEIB beschreiben: Diversity – Equity – Inclusion – Belonging. Es geht darum, für alle Menschen auf der Basis von selbstverständlicher Zugehörigkeit Räume als „soziale Gefäße“ (nach Scharmer) zu öffnen, in denen sie ihre Kompetenzen entfalten und ihre Kräfte für eine gemeinsame Arbeits- und Lebenskultur einbringen können. Zirkusplus schreibt über die Wirkung der SonnenstichShow: „Das Zusammenspiel ist in Journey to Mimoto der entscheidende Faktor. (…) Es springt ein Funke über – und der entzündet sich am Ganzen, das größer ist als die Summe seiner Teile.“ Damit der Funke ein Feuer werden kann, braucht es Menschen wie Elias, Neo und Luzian. Sie können aktiv beitragen zu einer Transformation unserer Gesellschaft, in der eine Kultur der Vielfalt, Gerechtigkeit und Zugehörigkeit
selbstverständlich ist. Eine mögliche Richtung beschrieb Elias Massing auf dem Personalmanagementkongress 2023: „Natürlich sind wir auf der Bühne aufgeregt. Aber wir sind wie eine Familie und halten zusammen. Und wir haben uns gesagt: Wir ziehen das jetzt zusammen durch.“ Damit legt er uns die Verantwortung in die Hände, unsere Zukunft als inklusives Miteinander zu gestalten.

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Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Branding. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Michael Pigl

Michael Pigl ist Gründer des inklusiven Circus Sonnenstich (1997) und Mitbegründer des Berliner Zentrums für bewegte Kunst. Seit 2004 entwickelt er Weiterbildungsmodelle für Zirkuspädagogik und eine inklusive Didaktik für Bewegungskünste. Er forscht als Pädagoge und Künstler an Bewegungs- und Kommunikationstechniken im Sinne eines „universal design of learning“. Pigl ist international als Dozent für Zirkuskünste tätig und coacht Projekte in Deutschland, Frankreich, Palästina, Südtirol und Österreich.

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