„Man hätte mutiger sein können“

Chancenkarte

Herr Tollenaere, was hat es mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz auf sich?

In der öffentlichen Kommunikation wird das Fachkräfteeinwanderungsgesetz oft als etwas ganz Neues dargestellt. Das stimmt so nicht. Seit 2005 gibt es das Zuwanderungsgesetz. Damit wurde zumindest für die qualifizierte Zuwanderung eine funktionierende Rechtsordnung geschaffen. Seit 2012 gibt es auch die Blaue Karte, ein Aufenthaltstitel für akademische Fachkräfte aus Nicht-EU-Staaten. Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz ist lediglich ein Update dieses bestehenden Aufenthaltsgesetzes.

Warum das Update?

Die Bundesregierung ist zu der Erkenntnis gekommen, dass das starre Festhalten am Erfordernis des nach deutschen Maßstäben anerkannten Abschlusses zu rigide ist. Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz baut nun auf drei Säulen auf: Der Fachkräftesäule für Personen mit in Deutschland anerkannter Berufsausbildung oder Studium, der Erfahrungssäule für Personen mit im Heimatland anerkanntem Abschluss und Berufserfahrung und der Potenzialsäule für Personen, die noch keine Stelle in Deutschland haben, aber relevante Qualifikationen, also Potenzial mitbringen. Das Update berücksichtigt vor allem die zweite Säule, die auf Ausbildung im Heimatland und Erfahrung setzt. Die Bundesregierung hat hier erkannt, dass die Berufserfahrung ausländischer Fachkräfte stärker berücksichtigt werden muss.

Wurde die Berufserfahrung vorher nicht berücksichtigt?

Nicht in diesem Umfang. Das bisherige System hat meistens vorausgesetzt, dass der Abschluss einer ausländischen Fachkraft nach deutschen Standards voll anerkannt sein muss, damit diese Person hier Arbeitsmarkzugang bekommt. Das wurde der Vielfalt der verschiedenen Bildungssysteme weltweit aber nicht gerecht – insbesondere außerhalb akademischer Berufe. Die neue Erfahrungssäule setzt zwar weiterhin eine mindestens zweijährige Ausbildung voraus, diese muss aber nicht nach deutschen Standards, sondern nach denen des jeweiligen Herkunftslands anerkannt sein.

Wofür steht die dritte Säule „Potenzial“ genau?

Es gibt viele Menschen, die Potenzial haben – eine gute Ausbildung, viel Erfahrung, gute Sprachkenntnisse – aber eben kein Stellenangebot. Für diese Menschen soll die Chancenkarte mehr Möglichkeiten schaffen.

Können Sie die Chancenkarte näher erläutern?

Die Chancenkarte ist die zentrale Aufenthaltserlaubnis der Potenzialsäule und ermöglicht die zur Arbeitsplatzsuche für Nicht-EU-Bewerberinnen und Bewerber. Solche Aufenthaltserlaubnisse zur Arbeitsplatzsuche gibt es schon länger. Bisher waren sie aber für Migrantinnen und Migranten ausgelegt, die einen in Deutschland anerkannten Abschluss hatten. Im Jahr 2020 lag die Zahl der Aufenthaltserlaubnisse zur Arbeitsplatzsuche laut Migrationsbericht der Bundesregierung bei nur 950 Einreisen, eine volkswirtschaftlich irrelevante Zahl.

Hier kommt die Chancenkarte ins Spiel. Sie wurde zum 1. Juni dieses Jahres eingeführt und soll arbeitssuchenden Fachkräften aus dem Ausland die Möglichkeit geben, sich neben einer abgeschlossenen Ausbildung auch durch andere Aspekte für einen Aufenthaltstitel qualifizieren zu können. Sie basiert auf einem Punktesystem, das es so in Deutschland bisher nicht gab.

Wie funktioniert das Punktesystem?

Es gibt zwölf Kriterien, die jeweils mit eins bis vier Punkten pro Kriterium belegt sind. Die Kriterien können addiert werden, insgesamt müssen mindestens sechs Punkte erreicht werden, um sich für die Chancenkarte zu qualifizieren, besser mehr.

Was sind die Kriterien, die Punkte bringen?

Die Kriterien, die für die Chancenkarte eine Rolle spielen, sind Alter, Bildungsabschluss, Sprachkenntnisse, Berufserfahrung und bisherige Aufenthalte in Deutschland. Hat ein Antragssteller einen in Deutschland bereits anerkannten Bildungsabschluss erhält er oder sie automatisch die volle Chancenkarte.

Wie lange darf man sich mit der Chancenkarte in DE aufhalten?

Die Chancenkarte ermöglicht es dem Erworbenen bis zu ein Jahr in Deutschland aufzuhalten. Findet die Person in diesen Zeitraum eine Festanstellung, kann die Chancenkarte in ein Arbeitsvisum umgewandelt werden, ohne dass die Person wieder ausreisen muss.

Kann jeder sich auf das Punkteverfahren bewerben?

Um Punkte sammeln zu können, sind eine mindestens zweijährige berufliche oder akademische Ausbildung erforderlich. Außerdem sind geringe Deutschkenntnisse oder gute Englischkenntnisse erforderlich. Hier sind weiterhin die Menschen im Vorteil, die bereits über einen Abschluss verfügen, der nach deutschen Standards anerkannt ist. Sie überspringen das Punktesystem und erhalten automatisch die Chancenkarte, unabhängig von Sprachkenntnissen.

Wie lange dauert ein Antrag übers Punkteverfahren?

Wie lange das dauert, hängt vom Herkunftsland der ausländischen Fachkraft ab und ist daher immer unterschiedlich. Denn der erste Schritt für eine ausländische Fachkraft ist die Beantragung eines Visums bei der jeweiligen deutschen Auslandsvertretung. Es ist also mit Wartezeiten auf einen Visumtermin von einigen Wochen bis zu mehreren Monaten zu rechnen.

Der Gesetzgeber selbst rechnet mit rund 30.000 Anträgen pro Jahr. Je mehr Anträge insgesamt gestellt werden, desto länger werden die einzelnen Verfahren dauern. Ich würde grob schätzen, dass nach Antragstellung nicht früher als vier bis acht Wochen mit einer Rückmeldung zu rechnen ist.

Wie ansprechend ist die Chancenkarte tatsächlich?

Auf der einen Seite ist sie wirklich eine große Chance. Aber man hätte mutiger sein können. Die Chancenkarte ist eine Erlaubnis zur Arbeitssuche, aber keinesfalls eine Garantie für eine sichere Zukunft in Deutschland. Ich bezweifle, dass wir jetzt in der ersten Zeit mehrere zehntausend Anträge bekommen werden.

Wo sehen Sie die Schwachstellen?

Vor allem in der Definition der Zielgruppe. Wer sich auf die Chancenkarte bewirbt, muss schon einiges in der Tasche haben. Der ideale Bewerber hat schon einen Abschluss, Fremdsprachenkenntnisse, mehrere Jahre Berufserfahrung, war schon einmal in Deutschland und so weiter. So eine Person hat in der Regel auch in seinem Heimatland gute Chancen oder gehört vielleicht sogar zur Elite des eigenen Lands. Je qualifizierter eine Person ist, desto eher frage ich mich: Inwieweit lohnt es sich für diese Personen, ihr Heimatland zu verlassen? Wo gibt es diese Population, die „Punktesammler“ sind und gleichzeitig bereit, für die Aussicht auf die Chancenkarte, also das bloße Recht zu einer sehr langen Arbeitsplatzsuche, Karriere, Familie und Umfeld hinter sich zu lassen? Zudem lässt sich die Arbeitsplatzsuche heutzutage in vielen Branchen mit Onlineinterviews und Kurzbesuchen zur persönlichen Vorstellung gestalten.

Gibt es weitere Hürden?

Die Bewerbung für die Chancenkarte setzt voraus, dass der Lebensunterhalt gesichert ist. Das bedeutet, dass eine gewisse Vorfinanzierung für die ersten Monate faktisch vorausgesetzt werden muss. Ein Betrag ist gesetzlich nicht festgelegt, aber im Visumverfahren bedeutet das meist, dass die Person ein Sperrkonto einrichten muss, auf das ein bestimmter monatlicher Mindestsatz eingezahlt wird. Das sind in der Regel auf die Monate verteilt zwischen 5.000 und 10.000 Euro. Auch das ist also eine Einschränkung. Wer dieses Geld nicht angespart hat, obwohl er qualifiziert wäre, kann sich eventuell nicht bewerben.

Sie haben gesagt, man hätte bei der Chancenkarte mutiger sein dürfen. Inwiefern?

Mit der Chancenkarte ist das Recht verbunden, während der Suche nach einer permanenten Arbeit schon 20 Stunden pro Woche zu arbeiten. Früher war das nicht möglich. Für mich ist das nur eine halbe Sache. Stattdessen hätte man der Person für die Zeit der Suche bereits ein volles Arbeitsrecht geben können. Man hätte außerdem sagen können: Wenn jemand in dieser Zeit tatsächlich einen Job findet, dann kann er sofort dort anfangen und nicht erst, wenn der Antrag durch ist. Denn derzeit ist es so, dass die Chancenkarte erst in eine volle Aufenthaltserlaubnis zur Beschäftigung umgewandelt werden muss, was in Anbetracht der Überforderung vieler Ausländerbehörden viele Wochen dauern kann.

Worauf muss HR beim Einstellungsprozess von Nicht-EU Migrantinnen und Migranten achten?

Spätestens vor Vertragsabschluss muss sich der Arbeitgeber über den Aufenthaltsstatus der Person informieren. Auch die Frage nach der Staatsangehörigkeit ist wichtig. Kommt der Bewerber oder die Bewerberin nicht aus der EU, muss geklärt werden, ob ein Zugang zum Arbeitsmarkt besteht und wenn ja, in welcher Form. Wenn sich dann herausstellt, dass es sich um eine Chancenkarte handelt, sind zwei wesentliche Dinge zu beachten.

Wer die Person mit der Chancenkarte gerne zu einer Probearbeit oder einem kleinen Schnupperpraktikum einladen mag, kann das problemlos tun. Bis zu zwei Wochen darf eine Person im Betrieb unentgeltlich in Vollzeit arbeiten. Zum anderen muss sich das Unternehmen bewusst machen: Die Chancenkarte ist keine Arbeitserlaubnis. Sobald ein Stellenangebot vorliegt, muss die Person bei der Ausländerbehörde ihres Wohnorts eine richtige Arbeitserlaubnis beantragen. Danach muss die Ausländerbehörde in einigen Fällen die Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit einholen.

Das Unternehmen selbst muss außerdem die behördlichen Unterlagen ausfüllen und nachweisen, dass die Person ein Arbeitsplatzangebot bei ihnen erhalten hat. Der Prozess bis zur endgültigen Rückmeldung kann also dauern. Manchmal einen Monat, manchmal drei, sechs oder mehr Monate. Zeitüberbrückend kann eventuell die Chancenkarte insofern genutzt werden, als sie selbst mit einem Arbeitsmarktzugang von 20 Stunden pro Woche einhergeht. Diese 20 Stunden kann der Karteninhaber nach aktueller Weisungslage ansparen, wenn er diese nicht mit einer Nebenbeschäftigung bereits verbraucht hat. Dies könnte für einen früheren Jobstart genutzt werden. Hier stellt sich aber ein Nachweisproblem, was dieses Vorgehen nicht ganz rechtsicher macht.

Es ist also schwierig, in dieser Zeit die Erwartungen von allen Seiten zu steuern. Personalverantwortliche sollten diese Wartezeiten einkalkulieren und den Starttermin der Fachkraft realistisch planen.

Die langwierigen Prozesse könnten Unternehmen abschrecken, migrantische Bewerber einzustellen. Gibt es Hoffnung inmitten dieser bürokratischen Prozesse?

Trotz des Aufwands ist es für Unternehmen mit einer guten Beratung gut möglich, die Prozesse einzuschätzen und entsprechend an Beschäftigte, Führungskräfte und Bewerber zu kommunizieren. Meiner Meinung nach spielen das Rechtssystem und das Verwaltungssystem zwar eine wichtige, aber nicht die entscheidende Rolle bei der Auslandsrekrutierung. Entscheidend ist das Anwerben der Fachkräfte selbst. Hier entwickelt sich gerade ein Markt von Dienstleistern, auf den Unternehmen, die diese Funktion nicht intern abbilden, zugreifen können.

Mit guten Rahmenbedingungen, möglichst wenigen staatlichen Eingriffen und gleichzeitiger staatlicher Sorge nach Rechtseinhaltung werden durch Wettbewerb Preise sinken und die Qualität steigen. HR muss bei der Auswahl der Anbieter insbesondere darauf achten, dass sie keine illegalen Dienstleistungen einkaufen. Beratung zu Visatypen, Arbeitsmarkzulassung und Arbeitgeberrechtspflichten bei der Einstellung von ausländischen Arbeitnehmern dürfen nur Rechtsanwälte erbringen, von denen es erfreulicherweise auch immer mehr mit guter Spezialisierung auf Arbeitsmigration gibt.

Viele geflüchtete Menschen wollen sich in den deutschen Arbeitsmarkt integrieren. Inwieweit sind die besprochenen Maßnahmen auch im Rahmen eines Asylverfahrens anwendbar?

Die Punktekarte steht im Asylverfahren nicht als Alternativoption zur Verfügung. Für Personen, deren Asylantrag abgelehnt worden ist, hat die Koalition mit dem nicht mit der Chancenkarte zu verwechselnden Chancenaufenthaltsrecht eine Möglichkeit geschaffen, bei guter Integration legal im Inland bleiben zu dürfen. Beide Systeme haben trotz Namensähnlichkeit nichts miteinander zu tun.

Über den Gesprächspartner:

Marius Tollenaere ist Partner und Rechtsanwalt im Frankfurter Büro der auf Fachkräftemigration spezialisierten Kanzlei Fragomen Global LLP. Seine Spezialgebiete sind das deutsche und europäische Migrations- und Staatsangehörigkeitsrecht. Er berät Unternehmen aus verschiedenen Branchen sowie Privatpersonen zu allen Aspekten rund um das Thema Einwanderung und Staatsangehörigkeit.

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Salome Häbe

Salome Häbe ist Volontärin beim Magazin Human Resources Manager. Sie hat im Bachelorstudiengang Internationale Kommunikation in den Niederlanden studiert und nebenbei freiberuflich für Magazine und Start-ups im Bereich der Nachhaltigkeit geschrieben.

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