Schutz vor Gewalt am Arbeitsplatz: ILO 190 und die Auswirkungen

Belästigung

Mit dem Übereinkommen Nummer 190 hat die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) im Jahr 2019 das erste internationale Übereinkommen verabschiedet, das globale Mindeststandards zur Prävention und Beseitigung von Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz festlegt. Staaten, die das Übereinkommen ratifizieren, sind nach Artikel 4 Absatz 1 verpflichtet, das Recht einer jeden Person auf eine Arbeitswelt ohne Gewalt und Belästigung zu achten, zu fördern und zu verwirklichen. Im Wesentlichen ist in ILO 190 geregelt:

1. Legaldefinition von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt

Nach Artikel 1 bezieht sich „Gewalt und Belästigung“ im Sinne des Übereinkommens „auf eine Bandbreite von inakzeptablen Verhaltensweisen und Praktiken oder deren Androhung“, die auf physischen, psychischen, sexuellen oder wirtschaftlichen Schaden abzielen oder diesen zumindest wahrscheinlich zur Folge haben. Bereits eine einmalige Aktivität genügt. Dass auch geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung hierunter fällt, wird nicht nur erwähnt, sondern durch eine eigene Definition hervorgehoben: Gewalt und Belästigung ist geschlechtsspezifisch, wenn sie sich gegen Personen aufgrund ihres Geschlechts richtet oder Personen eines bestimmten biologischen oder sozialen Geschlechts unverhältnismäßig stark betroffen sind. Dies erstreckt sich explizit auch auf sexuelle Belästigungen.

2. Geltungsbereich

Das Übereinkommen erstreckt sich auf die private Wirtschaft wie auf die öffentliche Hand. Nicht nur Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im engeren arbeitsrechtlichen Sinn sind geschützt, sondern alle abhängig Beschäftigten nach nationalem Recht sowie sonst erwerbstätige Personen ungeachtet ihres Vertragsstatus, des Weiteren Azubis, Praktikantinnen und Praktikanten. Ein Vertragsverhältnis muss noch nicht bestehen; Freiwillige und Arbeitssuchende fallen ebenso in den persönlichen Geltungsbereich wie natürliche Personen, die die Arbeitgeberfunktionen ausüben.

Weit zieht das Übereinkommen auch den räumlichen und sachlichen Geltungsbereich. Es gilt nicht nur dem Arbeitsplatz selbst, Artikel 3 bezieht Ruhe- und Pausenräume ebenso mit ein wie sanitäre und Umkleideeinrichtungen sowie vom Arbeitgeber bereitgestellte Unterkünfte. Ebenso wenig beschränkt sich der Geltungsbereich auf die Arbeit im engeren Sinn, sondern erfasst werden auch Gewalt und Belästigungen während arbeitsbezogener Fahrten, Reisen, Ausbildungen, Veranstaltungen oder gesellschaftlicher Aktivitäten, auf dem Weg zur und von der Arbeit sowie im Zuge arbeitsbedingter Kommunikation, einschließlich derer durch Informations- und Kommunikationstechnologien.

3. Grundlinien

Nach Artikel 4 Absatz 2 wird im Einklang mit nationalem Recht und Gegebenheiten sowie in Beratung mit den repräsentativen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden ein inklusiver, integrierter und geschlechterorientierte Ansatz zur Verhinderung und Beseitigung von Gewalt und Belästigung in der Arbeitswelt verfolgt, der, sofern gegeben, auch die Beteiligung Dritter berücksichtigt. Dies beschränkt sich nicht nur auf ein repressives Verbot von Gewalt und Belästigung in Verbindung mit Sanktionen; einschlägige Politiken und umfassende Strategien sollen Gewalt und Belästigung angehen und verhindern, Durchsetzungs- und Überwachungsmechanismen eingerichtet und gestärkt werden. Damit sind auch Bildungs- und Schulungsangebote sowie sonstige Sensibilisierungsmaßnahmen in zugänglichen Formaten gemeint. Der Zugang zu Abhilfemaßnahmen und zur Unterstützung für Opfer ist ebenso sicherzustellen wie wirksame Vorkehrungen für die Aufsicht und Untersuchung in Fällen von Gewalt und Belästigung, einschließlich durch Arbeitsaufsichtsbehörden oder sonst zuständige Stellen.

4. Konkretisierungen

Die Artikel 8 bis 12 konkretisieren diese Grundlinien sowohl bezüglich Schutz und Prävention als auch hinsichtlich der Durchsetzung und der Abhilfemaßnahmen ebenso weiter wie hinsichtlich von Schulungen und sonstiger Sensibilisierung. Wie weitreichend dies ist, zeigt nicht zuletzt, dass selbst die Auswirkungen von häuslicher Gewalt auf die Arbeitswelt anzuerkennen und deren Auswirkungen in der Arbeitswelt, soweit angemessen und praktisch durchführbar, zu mindern sind, Artikel 10 lit. f) des Übereinkommens.

Nach Artikel 12 ist das Übereinkommen durch die jeweiligen innerstaatlichen Rechtsvorschriften, durch Gesamtarbeitsverträge oder andere mit der innerstaatlichen Praxis in Einklang stehende Maßnahmen umzusetzen. Explizit genannt wird dabei die Ausweitung bestehender Arbeitsschutzmaßnahmen auf Gewalt und Belästigung oder deren Anpassung sowie bei Bedarf die Entwicklung spezifischer Maßnahmen.

Auswirkungen auf deutsche Gesetze

Das Übereinkommen räumt Einzelnen keine subjektiven Rechte ein. Es verpflichtet aber die Bundesrepublik, die Pflichten aus dem Übereinkommen bei Rechtsetzung und -anwendung zu beachten beziehungsweise sicherzustellen. Nach der Denkschrift zum Ratifikationsgesetz ist die Bundesregierung der Auffassung, dass Ergänzungen deutscher Gesetzesvorschriften nicht erforderlich sind, um die Anforderungen des Übereinkommens zu erfüllen. Ob diese Ansicht sich als zutreffend erweist, bleibt abzuwarten.

Es wird bereits kritisiert, dass gerade der nicht zu übersehende präventive Ansatz des Übereinkommens durch die bestehenden Gesetze, insbesondere das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), nicht ausreichend umgesetzt ist. In jedem Fall handelt es sich der Sache nach um Arbeitsschutzrecht. Dieses normiert vielfach Schutzpflichten öffentlich-rechtlicher und privatrechtlicher Natur, wie beispielsweise das Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) oder auch Paragraf 618 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) zeigen. Auch wenn der Gesetzgeber derzeit passiv ist – die Praktiker werden gut daran tun, das Übereinkommen bei der Erfüllung ihrer schon bestehenden Pflichten zu bedenken, um nicht eines Tages eine Überraschung ähnlich dem Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 13. September 2022 (1 ABR 22/21) zum Arbeitszeitrecht zu erleben, mit dem das Bundesarbeitsgericht eine Pflicht der Arbeitgeber zur Erfassung der Arbeitszeiten aus europarechtskonformer Auslegung von Paragraph 3 Absatz 2 Nr. 1 ArbSchG herausgelesen hat.

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Axel J Klasen, Foto: Privat

Axel J. Klasen

Axel J. Klasen ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht bei GvW Graf von Westphalen.

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