Ausbildungsvergütung: Pro-rata-temporis Anrechnung von Zwischenverdienst

Ausbildung

Im streitgegenständlichen Fall hatten sich die Parteien nach der fristlosen Kündigung eines Ausbildungsverhältnisses im Rahmen eines gerichtlichen Vergleichs am 25. April 2023 darauf geeinigt, dass die Beklagte das Ausbildungsverhältnis für die Zeit vom 26. Juli 2022 bis zum 30. April 2023 unter Anrechnung des von der Klägerin erzielten Zwischenverdiensts für die Monate August bis Dezember 2022 ordnungsgemäß abzurechnen hat und die Ausbildungsvergütung 1.099,00 Euro brutto monatlich beträgt.

Zwischenverdienst bezeichnet einen Verdienst, für dessen Erzielung das Freiwerden der Arbeitskraft kausal war.

Vergleichsvereinbarung und Nichtzahlung der Vergütung

Dennoch hatte die Beklagte nach Vergleichsschluss für den Zeitraum vom 26. Juli 2022 bis zum 30. April 2023 keine Ausbildungsvergütung mehr an die Klägerin gezahlt. Sie begründet dies im Verfahren damit, dass der mitgeteilte Zwischenverdienst auf den Anspruch auf Zahlung der Ausbildungsvergütung für den gesamten Zeitraum, demnach vom 26. Juli 2023 bis zum 30. April 2023, anzurechnen sei. Dies würde Paragraf 615 Satz 2 BGB entsprechen, von dem die Parteien durch den Vergleich nicht hätten abweichen wollen.

Die Klägerin hatte der Beklagten mitgeteilt, dass sie lediglich im Juli 2022 848,67 Euro brutto, im August 2022 1.296,53 Euro brutto, im September 2022 3.212,14 Euro brutto, im Oktober 2022 3.272,19 Euro brutto, im November 2022 1.846,23 Euro brutto und im Dezember 2022 bis zum 15. Dezember 2022 1.685,48 Euro brutto Zwischenverdienst erzielt habe. Der in der Zeit vom 1. August 2022 bis zum 15. Dezember 2022 erzielte Zwischenverdienst übersteigt unstreitig den gesamten Anspruch auf Ausbildungsvergütung für die Zeit vom 26. Juli 2022 bis zum 30. April 2023.

Gerichtliche Entscheidung zugunsten der Klägerin

Mit ihrer Klage macht die ehemalige Auszubildende gegenüber der Beklagten die Zahlung der Ausbildungsvergütung für die Zeit vom 15. Dezember 2022 bis April 2023 mit der Begründung geltend, dass der Zwischenverdienst nur in dem Monat anzurechnen sei, in dem dieser erzielt worden sei und nicht auf weitere Monate, in denen kein Zwischenverdienst erzielt worden sei. Die Beklagte meint dagegen, der mitgeteilte Zwischenverdienst sei auf den Anspruch auf Zahlung der Ausbildungsvergütung für den gesamten Zeitraum, demnach vom 26. Juli 2023 bis zum 30. April 2023, anzurechnen.

Rechtsauslegung des Arbeitsgerichts Hamburg

Entgegen der Rechtsprechung des Urteils des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 24. Februar 2016 ( 5 AZR 425/15) hat das Arbeitsgericht zugunsten der Klägerin einen Anspruch auf Zahlung der Ausbildungsvergütung für die Zeit vom 1. Januar 2023 bis 25. April 2023 gemäß Paragraf 17 Absatz 1 Satz 1 Berufsbildungsgesetz (BBiG), Paragraf 615 Satz 1 BGB mit der Begründung bejaht, Paragraf 615 Absatz 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) habe die Entstehung des Anspruchs nicht gehindert. Seine Geltung sei für die Monate Januar bis April 2023 durch den Prozessvergleich ausgeschlossen, was zudem der gesetzlichen Anrechnungsregelung entspreche. Enthält ein Vergleich nur die übliche Formel, das Arbeitsverhältnis ordnungsgemäß abzurechnen und sich ergebene Nettobeträge an die klagende Partei auszuzahlen, werde damit nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts lediglich die Rechtslage wiedergegeben. Das Wort „ordnungsgemäß“ ziele auf die außerhalb des Vergleichs vorzufindenden, von ihm unabhängigen Rechtsnormen. Hierzu gehörten die Paragrafen 615 Satz 1, 611a BGB und Paragraf 11 Kündigungsschutzgesetz (KSchG). Vorliegend enthält der Vergleich – über die übliche Formulierung hinausgehend – die Eingrenzung der Anrechnung von Zwischenverdienst auf die Monate August bis Dezember 2022.

Die Auslegung des Vergleichs ergebe ferner nicht nur die Begrenzung der anzurechnenden Summe, sondern auch des Zeitraums, auf den diese Summe angerechnet werden soll. Nach Ansicht des Arbeitsgerichts Hamburg entspricht die pro-rata-temporis-Anrechnung der gesetzlichen Regelung des Paragrafen 615 Satz 2 BGB. Dies ergebe sich unter anderem aus systematischen Erwägungen, da nach Paragraf 614 Satz 2 BGB der Lohnanspruch am Ende des Zeitabschnitts fällig wird, nach dem sich die Vergütung bemisst, somit vorliegend monatlich.

Rechtsauslegung des Arbeitsgerichts Hamburg

Die Anrechnungsregelung des Paragrafs 615 Satz 2 BGB würde sich somit von der Gesetzessystematik auf den jeweiligen Monat beziehen. Zunächst regelt nach Ansicht des Gerichts das Gesetz, für welchen Zeitabschnitt die Vergütung zu zahlen ist, dann, was sich die Arbeitnehmerin hierauf im Falle des Verzugs der Arbeitgeberin anrechnen lassen muss – was vorliegend zu einer Anrechnung der bis zum 15. Dezember 2022 erzielten Vergütung auf die gesamte Monatsvergütung bis 31. Dezember 2022 führt. Paragraf 615 Satz 2 BGB löse die von der Arbeitgeberin wiederkehrend zu entrichtende Vergütung gerade nicht von ihrer Zuordnung zu einem bestimmten Zeitabschnitt.

Dies würde zudem dem Sinn und Zweck des Paragrafen 615 Satz 2 BGB entsprechen, da die während des Annahmeverzuges zur Vergütungsfortzahlung verpflichtete Arbeitgeberin nur in dem Umfang von der Vergütungspflicht befreit werden soll, wie die Arbeitnehmerin den Wert der geschuldeten Vergütung durch anderweitige Verwendung der geschuldeten Arbeitskraft erlangt. Nach Ansicht des Arbeitsgerichts Hamburg hat das BAG übersehen, dass die Arbeitnehmerin durch eine pro-rata temporis Anrechnung nicht „auf Kosten der Arbeitgeberin“ einen Gewinn macht. Zudem soll Paragraf 615 Satz 2 BGB vielmehr die doppelte Verwertung der Arbeitskraft ausschließen, ohne der Arbeitgeberin einen eigenständigen Anspruch auf Herausgabe des anderweitigen Erwerbs insgesamt zu geben.

Zudem würde die Anrechnung von Zwischenverdienst über den gesamten Zeitraum des Annahmeverzugs hinweg zu sozialversicherungsrechtlichen Nachteilen für die Arbeitnehmerin führen. Insgesamt sei die vom BAG vertretene Gesamtberechnung von Verzugslohnansprüchen deshalb abzulehnen. Die systematische Betrachtungsweise, die sozialversicherungsrechtliche Betrachtungsweise sowie der Sinn und Zweck des Paragrafen 615 Satz 2 BGB würden vielmehr ergeben, dass die Anrechnung des Zwischenverdiensts auf den jeweiligen Zeitabschnitt (Paragraf 614 BGB) die sachnähere, interessengerechtere Lösung sei und zudem die Gesamtberechnung zu einer bedenklichen Beschneidung des Rechts der Arbeitnehmerin aus Artikel 2 Absatz 1, 12 Absatz 1 GG führen würde.

Fazit und Empfehlungen

Auch wenn die Argumentation für eine pro-rata-temporis Anrechnung des Zwischenverdiensts, bezogen auf eine Beschneidung der Grundrechte, etwas weit geht, ist sie doch im Übrigen rechtlich nachvollziehbar und interessengerecht, gerade vor dem Hintergrund ansonsten drohender sozialversicherungsrechtlicher Nachteile. Künftig sollten Arbeitgeber vor dem Hintergrund dieser Entscheidung möglichst im Rahmen eines Vergleichs davon absehen, den Anrechnungszeitraum zu begrenzen.

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Claudine Gemeiner, Foto: Privat

Claudine Gemeiner

Rechtsanwältin und Fachanwältin für Arbeitsrecht
Heussen Rechtsanwaltsgesellschaft mbH
Claudine Gemeiner ist Rechtsanwältin und Fachanwältin für Arbeitsrecht bei der Heussen Rechtsanwaltsgesellschaft mbH in München.

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