Zielvorgabe zu spät: Arbeitgeber schuldet 100-Prozent-Bonus als Schadensersatz

Bonussystem

Es ist ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG), dass eine verspätete oder gar unterbliebene Zielvereinbarung dem betroffenen Arbeitnehmer einen Anspruch auf Schadensersatz geben kann. In diesem Jahr setzt sich diese Auffassung bei verschiedenen Landesarbeitsgerichten (LAG) auch für den Fall einer verspäteten Zielvorgabe durch, also der einseitigen Festlegung von Zielen durch den Arbeitgeber.

Der Fall

In seinem Urteil vom 5. Juli 2024 (12 Sa 1210/23) hat das LAG Hamm den beklagten Arbeitgeber zur Zahlung von 28.035,08 Euro nebst Zinsen als Schadensersatz wegen verspäteter Vorgabe von Zielen für das Kalenderjahr 2022 verurteilt.

Die Parteien hatten vereinbart, dass der Kläger bei Erreichen sämtlicher Ziele, also von 100 Prozent im Sinne des Bonussystems des Unternehmens und in Anwendung der jeweils gültigen Bonusregelung, einen Jahresbonus in Höhe von brutto 30 Prozent des tatsächlich gezahlten Bruttojahresgrundentgelts erhalte, wobei dieser Betrag entsprechend dem Zielerfüllungsgrad auch über- oder unterschritten werden könne. Die Beklagte hatte in den Jahren zuvor keine persönlichen Leistungsziele gesetzt, sondern immer nur Umsatzziele für das ganze Unternehmen. Die Beklagte teilte jedoch dem Kläger weder vor noch zu Beginn des Jahres 2022 Zielvorgaben mit. Der Kläger hakte diesbezüglich allerdings auch nicht nach. Die Beklagte behauptete, dass die Zielvorgaben Anfang Juni 2022 per E-Mail an alle Mitarbeiter kommuniziert worden seien; auch seien sie im Intranet einsehbar gewesen.

Das Arbeitsgericht Paderborn (AG) verurteilte die Beklagte zur Zahlung eines Schadensersatzes in Höhe eines fiktiv mit 100-Prozent-Zielerreichung angenommenen Bonusses. Der Schaden des Klägers sei vorliegend auf 28.035,08 EUR brutto zu schätzen. Bei einer 100-prozentigen Zielerreichung hätte der Bonus insgesamt 61.957,08 EUR brutto betragen.

Das LAG Hamm schloss sich der Auffassung des Arbeitsgerichts sowie der Auffassung einer Reihe anderer Landesarbeitsgerichte an, wonach eine für die Zielperiode pflichtwidrig und schuldhaft unterbliebene Zielvorgabe in gleicher Weise zu Lasten des Arbeitgebers schadensersatzauslösend ist, wie eine pflichtwidrig und schuldhaft nicht abgeschlossene Zielvereinbarung. Dies gelte auch, wenn keine persönlichen Ziele, sondern nur unternehmensbezogene Ziele hätten festgelegt werden sollen; auch diese hätten eine Anreizfunktion für die Arbeitnehmerinnen.

Verspätete oder begrenzte Zielvorgaben erfüllten die Anreizfunktion nicht

Für das LAG Hamm war für die Urteilsfindung auch von Interesse, dass die Beklagte dem Kläger nach ihrem eigenen Vortrag keine Ziele mitgeteilt hatte, die erst ab dem Zeitpunkt der verspäteten Mitteilung bis zum Ende der Zielperiode zu erreichen waren, sondern das gesamte Jahresziel mit Wirkung ab Beginn des Jahres 2022 vorgegeben hatte. Unabhängig davon wäre eine solche zeitlich begrenzte Zielvorgabe aber auch rechtlich gar nicht zulässig gewesen, da die Zielperiode im Arbeitsvertrag und in einer Rahmenrichtlinie der Beklagten auf ein Kalenderjahr festgelegt worden war und nicht einseitig hiervon abgewichen werden durfte.

Das LAG Hamm teilte die Auffassung der Vorinstanz, dass es selbst bei Zugrundelegung des Vortrags der Beklagten, sie habe ab Juni 2022 für den Kläger wahrnehmbare Ziele zumindest im Intranet veröffentlicht, an weiterem Vortrag dazu fehle, dass die Ziele nach einer auf diesen Zeitpunkt bezogenen Prognose noch bis zum Ablauf des Jahres 2022 erreichbar gewesen wären. Für das LAG Hamm ist klar: Ebenso wie eine unterbliebene oder verspätete Zielvereinbarung könne auch eine Zielvorgabe, die erst nach der Hälfte der Zielperiode erfolgt, die nötige Anreizfunktion überwiegend nicht mehr erfüllen. Eine in diesem Sinne verspätete Zielvorgabe wirke daher wie eine gänzlich unterbliebene. Da die Zielvorgabe einseitig erfolgt, kommt es – im Gegensatz zu dem Fall der Zielvereinbarung – auf ein Verschulden des Mitarbeiters, etwa wenn er es selbst unterlässt, Ziele einzufordern, nicht an. Jedoch: Nur geringe Verspätungen beziehungsweise Verzögerungen eines Zielvereinbarungsprozesses beziehungsweise einer einseitig zu erteilenden Zielvorgabe von einigen Tagen oder Wochen hält das LAG Hamm hingegen für hinnehmbar.

Bei größeren Verzögerungen – ab zwei bis drei Monaten – treffe hingegen den Arbeitgeber sowohl im Falle einer Zielvereinbarung wie auch bei einseitigen Zielvorgaben die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass der Arbeitnehmer die Ziele hätte erreichen können. Insbesondere müsse der Arbeitgeber darlegen und beweisen können, dass der Arbeitnehmer, auch wenn der Arbeitgeber die Ziele vor Beginn der Zielperiode gesetzt hätte und die Zielvorgabe damit ihre Anreizwirkung in vollem Umfang entfaltet hätte, seine Ziele nicht zu 100 Prozent erreicht hätte. Könne der Arbeitgeber hierzu nicht vortragen, so könne der Arbeitnehmer den Bonus auf Basis einer 100-prozentigen Zielerreichung im Rahmen eines Schadensersatzanspruchs verlangen.

Bei der durch das Gericht vorzunehmenden Schadensschätzung sind im Rahmen des für das Gericht bestehenden Ermessens auch Umstände zu berücksichtigen, die gegen eine Zielerreichung des Arbeitnehmers sprechen. Zu solchen Umständen, die der Arbeitgeber darzulegen und zu beweisen hat, gehöre es insbesondere, wenn der Arbeitnehmer auch in den Vorjahren die für ihn geltenden Ziele nicht erreicht hat, wie das BAG im Urteil vom 12. Mai 2010 (10 AZR 390/09) entschieden hat. Einen solchen Vortrag konnte die beklagte Arbeitgeberin jedoch nicht halten. Weder das Arbeitsgericht noch das Landesarbeitsgericht haben ausdrücklich thematisiert, dass sich der Kläger seinerseits wohl nicht bemüht hatte, frühestmöglich Ziele zu erhalten. Nach dem Sachverhalt scheint er schlicht abgewartet zu haben, bis die Ziele mitgeteilt wurden. Aus der rechtlichen Würdigung, dass es sich im vorliegenden Fall um eine Zielvorgabe und nicht um eine Zielvereinbarung gehandelt habe, folgt allerdings auch, dass es auf ein schuldhaftes Unterlassen des Arbeitnehmers gar nicht ankäme. Eine fehlende Mitwirkung des Arbeitnehmers kann nur im Falle einer Zielvereinbarung, bei der es auf beide Seiten ankommt, zu seinen Lasten berücksichtigt werden.

Kontext der Entscheidung

Wie das LAG Hamm zutreffend ausführt, ist bislang die Frage vom BAG noch nicht entschieden worden, ob Zielvorgaben ebenso zu behandeln sind und wie sich eine nicht bzw. eine verspätet erteilte Zielvorgabe auf den Schadensersatzanspruch des Arbeitnehmers auswirkt. Mit Blick darauf hat das LAG Hamm die Revision zugelassen.

Die Entscheidung liegt auf einer Linie mit einer aktuellen Entwicklung auch bei anderen Landesarbeitsgerichten:

So hat das LAG Nürnberg in zwei Urteilen vom 24. April 2024 (2 Sa 293/23) und vom 26. April 2024 (8 Sa 292/23) ebenfalls gegen den Arbeitgeber entschieden. In beiden Fällen hatte die Beklagte die Vorgaben für die – im März des Jahres festgelegten – Unternehmensziele den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erst am 26. Oktober 2021 bekanntgegeben. Das LAG Nürnberg unterstreicht, was auf der Hand liegt: Eine Anreizfunktion kann natürlich erst ausgelöst werden, wenn die betroffenen Mitarbeiter überhaupt von den Zielen Kenntnis haben. Ein derart später Zeitpunkt der Bekanntgabe könne auch für die noch verbleibende Periode keine sinnvolle Anreizfunktion mehr erfüllen und sei daher wie eine gänzlich unterbliebene Vorgabe zu behandeln. Wenn das Geschäftsjahr bereits zu mehr als drei Viertel abgelaufen sei, sei es für den Anreiz zu spät. Das LAG Nürnberg verweist auf ein Urteil des LAG Köln vom 6. Februar 2024 (4 Sa 390/23), mit dem gleichfalls ein Arbeitgeber zum Schadensersatz wegen verspäteter Zielvorgabe (im September der Zielperiode) verurteilt wurde. Auch das LAG Nürnberg hat die Revision zugelassen, die von der dortigen Beklagten unter dem Aktenzeichen 10 AZR 125/24 eingelegt wurde.

Empfehlungen für Arbeitgeber

Angesichts dieser aktuellen Positionierung von drei Landesarbeitsgerichten sollten sich die Rechtsanwender bis zu der nun durch die Revision möglichen Entscheidung des BAG bemühen, die Anreizfunktion von Zielvorgaben sicherzustellen und folglich die Ziele möglichst spätestens bis zum Ablauf des ersten Quartals (nachweisbar) bekanntgeben. Optimal wäre es natürlich, dass die Zielvereinbarungen beziehungsweise Zielvorgaben möglichst schon vor Beginn des neuen Geschäftsjahres oder im Januar erfolgen. Streitigkeiten, die nach der bisher erkennbaren Rechtslage mit einiger Sicherheit zu Schadensersatzansprüchen des Arbeitnehmers führen, sollten gar nicht erst entstehen müssen. Wenn Arbeitgeber dennoch das Risiko eingehen müssen, sollten sie im Prozess zumindest in der Lage sein, vortragen und beweisen zu können, dass der betroffene Mitarbeiter die Ziele nicht zu 100 Prozent erreicht hätte. Das LAG Hamm deutete auch die Möglichkeit an, im Arbeitsvertrag eine spätere Zielvorgabe zu vereinbaren. Letzteres muss aber sorgfältig geprüft werden.

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Helge Röstermundt, Rechtsanwalt bei Heussen

Helge Röstermundt

Helge Röstermundt ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht bei HEUSSEN Rechtsanwaltsgesellschaft mbH am Standort Berlin.

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