Remote arbeiten: Grenzenlose Möglichkeiten

Weltweit

Am Morgen haben Leonie Müller die läutenden Glocken einer Ziegenherde geweckt, die an ihrem Van vorbeitrottete. Die 32-Jährige steht mit ihrem Van gerade in Südeuropa in den Bergen, sie macht Urlaub im kroatischen Hinterland. Normalerweise fährt sie vor allem durch Deutschland und berät und coacht ihre Kunden zu New-Work-Themen. Sie arbeitet bei ihnen vor Ort, aber auch mobil auf den achteinhalb Quadratmetern Wohnfläche, die ihr der Van bietet. Ihr gefällt es, auf diese Weise Freunde und Verwandte treffen zu können, die über ganz Deutschland verteilt sind – und ihre Arbeit nimmt sie einfach überallhin mit.

Immer mehr Menschen wünschen sich, nicht mehr ausschließlich im Büro zu sitzen, wenn sie ihrer Arbeit nachgehen. Dem State of Remote Work Report aus dem Jahr 2023 zufolge wollen überwältigende 98 Prozent der Befragten für den Rest ihrer Karriere zumindest ab und zu remote arbeiten. Für einige Zeit in einem anderen Land zu arbeiten, ist ebenfalls beliebt: Die Studie Workation zwischen Wunsch und Wirklichkeit der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Pricewaterhouse Coopers aus diesem Jahr zeigt, dass für 64 Prozent der befragten Deutschen eine Workation im Ausland infrage kommt. Das gilt mit satten 80 Prozent insbesondere für die Generation zwischen 18 und 29 Jahren.

Und doch hat die große Remote-Euphorie schnell einen Dämpfer bekommen: Studien zeigen, dass flexibles Arbeiten auch psychische Überlastung, Vereinsamung oder Karrierenachteile mit sich bringen kann. Zudem vertieft sie zum Teil die Geschlechterungleichheit, was die Care-Arbeit betrifft.

Manche Unternehmen haben dementsprechend die Flexibilität bereits wieder eingeschränkt. So berichtet Anna Weber, Geschäftsführerin des Unternehmens für Baby- und Kleinkinderartikel Babyone, in einem Interview mit der Wirtschaftswoche, dass sie das 2022 eingeführte System Work from anywhere zurückdrehen werden. Es gilt wieder eine Präsenzpflicht an drei Tagen pro Woche. Dabei sei es nicht die fehlende Leistung der Angestellten gewesen, die im Unternehmen bei möglichen einhundert Prozent Remote Work nicht funktionierte, sondern die Kommunikation: Komplexe Absprachen waren schwierig, es gab zu viel Chat-Ping-Pong. Dabei hatte man bei Babyone vieles ausprobiert: neue Tools und Arbeitsweisen, etwa Reviews und Feedbackschulungen. Babyone ist ein Familienunternehmen in zweiter Generation, mit rund 1.400 Mitarbeitenden und 103 Filialen, davon 76, die von Franchisenehmern geführt werden. Die organisatorischen Prozesse sind also komplex. So lag die abteilungsübergreifende Zusammenarbeit Geschäftsführerin Weber zufolge nach eineinhalb Jahren mit dem neuen Modell auf dem schlechtesten Stand seit Jahren. Wie sie das erhoben hat, sagt die Geschäftsführerin allerdings nicht. Weber bemängelt vor allem, dass die kleinen zwischenmenschlichen Kontakte und Begegnungen fehlten, was auch das Onboarding von Angestellten und Azubis schwer mache.

Ein Unternehmen, das diese Probleme nicht zu haben scheint, ist die 2017 gegründete Kommunikationsagentur Hypr. „Unser Sitz und unsere Büroräume sind in Berlin. Wer mag, kann in die Büroräume kommen, aber niemand muss“, erzählt Lisa Hinterecker, People & Culture Lead bei Hypr. Die allermeisten sind tatsächlich nahezu nie in Berlin. Fest vor Ort sind nur Gründer Sachar Klein und eine weitere Mitarbeiterin. Alle anderen kommen nur mal zu Besuch, genug Platz gibt es dafür. Es geht aber auch ohne regelmäßige Besuche: Einer von Hintereckers Kollegen ist beispielsweise vor etwa dreieinhalb Jahren mit seiner Familie nach Dänemark ausgewandert. Für ihn ging ein Lebenstraum in Erfüllung. Es sei nie die Frage gewesen, ob das geht, sondern nur wie, sagt Hinterecker. Auch sie arbeitet aktuell in einer Ferienwohnung am italienischen Lago Maggiore anstatt zu Hause in München.

Gemeinsame Werte als Basis

Wie schafft die Agentur das? Eine Antwort darauf lautet: Es gibt fast keine Meetings. Wenn doch, sind sie langfristig angekündigt. Fast die gesamte Kommunikation läuft schriftlich und asynchron. Die Regel lautet: Nachrichten werden im Laufe eines Tages beantwortet. „Damit das klappt, müssen alle immer mitteilen, wann sie arbeiten. Dann stellen sich die anderen darauf ein“, erklärt Hinterecker. Das Team kommuniziert vor allem über ein Projektmanagement-Tool und einen Instant-Messaging-Dienst. Über Arbeitszeiten und Abwesenheiten informieren sie sich im wöchentlichen gemeinsamen Team-Call und tragen sie in eine virtuelle Arbeitsplattform ein. Anrufe gibt es nur, wenn es wirklich dringend ist oder man einfach gern ein direktes Gespräch führen möchte. Aktuell arbeiten bei Hypr 13 Menschen an zehn verschiedenen Standorten in Deutschland, Schweden, Dänemark und bald auch in Portugal. Die Möglichkeit zur Workation nutzen viele ebenfalls gern. All das ist sicherlich deutlich einfacher, wenn nur 13 Personen miteinander kommunizieren und nicht 1.400 wie bei Babyone.

Es könnte bei Hypr auch so gut funktionieren, weil das Management die Agentur von vornherein mit dem Full-Remote-Ziel gegründet hat. Hinterecker erzählt, dass sie schon beim Recruiting auf das Matching achtet. Sie schaut, ob Bewerbende schon Erfahrung mit Full-Remote-Arbeit gemacht haben oder sich vielleicht sogar explizit nach einer solchen Stelle umsehen. Denn remote zu arbeiten, verlangt ein Extra an Selbsteinschätzung, den Willen zur Team­arbeit und einen Blick für das gemeinsame Ziel. Es geht hier nicht um Einzelleistungen oder Profilierung. Auf der Bewertungsplattform Kununu schreibt etwa ein Ehemaliger: „Wir haben eine gemeinsame Mission. Ich habe selten erlebt, dass man sich gegenseitig so viel und so gern hilft wie bei Hypr.“

Überwachungssysteme für Anwesenheit gibt es bei der Agentur nicht. Diese seien auch ohnehin meist unzulässig, sagt Rechtsanwältin Romy Graske. Sie berät unter anderem Expats, Freelancer und Unternehmen und empfiehlt, remote Mitarbeitende mit konkreten Zielen zu motivieren. „Spüren Menschen, dass sie dazu beitragen, Unternehmensziele zu erreichen, werden sie tausendmal motivierter sein als diejenigen, deren Arbeitszeit im Homeoffice überwacht wird“, sagt Graske.

Steuer- und Sozialversicherungspflichten im Blick behalten

Was technisch längst unkompliziert möglich ist, birgt organisatorisch noch für einige Unternehmen Stolperfallen: Manchmal ist etwa unklar, wo das Unternehmen die Steuern und Sozialversicherungsbeiträge für den jeweiligen Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin zahlen muss. „Vereinfacht gesagt kommt immer das Sozialversicherungsrecht des Landes zum Einsatz, in dem die Person lebt, arbeitet und den wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit ausübt“, sagt Graske. Grob lassen sich drei Szenarien unterscheiden:

1. Mitarbeitende erledigen den überwiegenden Teil ihres Jobs komplett im Ausland und leben auch dort.
2. Sie arbeiten nur für einige Monate oder Wochen, etwa im Rahmen einer Workation, nicht in Deutschland.
3. Sogenannte Grenzgänger sind dauerhaft in zwei Ländern tätig.

All diese Sachverhalte haben unterschiedliche Folgen: So gilt laut Graske beispielsweise meist schon ab 25 Prozent der Arbeitstätigkeit im Wohnsitzstaat das Sozialversicherungsrecht dieses Staates. Arbeitet eine Person also beispielsweise vollständig aus Madrid für ein deutsches Unternehmen, gilt das Prinzip des Erwerbsorts (1.) und damit das spanische Sozialversicherungssystem. Arbeitet sie jedoch nur vorübergehend dort (2.), bleibt sie in Deutschland sozialversichert. Bei Entsendungen bleiben sie hierzulande versichert. Das Unternehmen muss dafür eine A1-Bescheinigung beantragen. Das geht in der Regel über die jeweilige Krankenkasse.

Arbeitet eine Person hingegen in einem Nicht-EU-Staat, sind die Sozialversicherungsabkommen mit dem jeweiligen Land entscheidend. Gibt es ein bilaterales Abkommen, regelt dieses, in welchem Land sie sozialversicherungspflichtig ist. Existiert kein Abkommen, müssen Unternehmen die jeweiligen Regelungen prüfen.

Auch steuerrechtliche Fragen können sich von Land zu Land unterscheiden. Grundsätzlich gilt, dass die Einkommenssteuer dort gezahlt wird, wo Mitarbeitende physisch arbeiten. Eine Ausnahme ist die 183-Tage-Regel. Sie gilt für Leute, die etwa in Paris arbeiten, ihr Gehalt jedoch von einem deutschen Unternehmen bekommen. Verbringt die Person mehr als diese Zeit in Frankreich, würde sie ebenfalls dort steuerpflichtig. Damit es nicht ständig zu doppelten Besteuerungen kommt, haben die meisten Staaten aber längst sogenannte Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) getroffen. Sie legen fest, wo der Mitarbeiter seine Steuern zahlen muss. Unternehmen sollten deshalb genau prüfen, wie viel Stunden tatsächlich im Ausland gearbeitet wird, und sich dann die entsprechenden Abkommen anschauen. „Idealerweise erlauben Unternehmen Home­office nur für die Länder mit Doppelbesteuerungsabkommen“, sagt Graske.

Lisa Hinterecker von Hypr findet ebenfalls, dass sich HR-Kräfte um individuelle Lösungen bemühen sollten. Dänemark hat beispielsweise nicht das EU-Abkommen zur Sozialversicherung unterschrieben, was den Umzug ihres Kollegen kniffliger gemacht hat. Am Ende haben sie sich daher entschieden, sich beraten zu lassen. Solche Fachleute finden Unternehmen beispielsweise über das EURES-Netzwerk. Hier haben sich unter Koordination der Europäischen Kommission öffentliche Arbeitsverwaltungen, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände zusammengeschlossen und bieten europaweite Beratungen zur Arbeitsmarktmobilität an. Aber auch Handwerkskammern, spezialisierte Steuerberatungen und Juristinnen bieten Hilfe.

Bei der reisenden Leonie Müller ist das alles einfacher. Als Selbstständige ist sie ohnehin ihre eigene Chefin. Und da sie die meiste Zeit in Deutschland arbeitet, ist sie hierzulande steuerpflichtig und ganz normal sozialversichert. Ihre beruflichen Van-Fahrten setzt sie über ein Fahrtenbuch ab. Müller genießt diese Mischung aus Abenteuer und Alltag. Sie findet es aufregend, wenn sie morgens noch nicht weiß, was sie abends erlebt haben wird.

Weitere Beiträge zum Thema:

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Weltweit. Das Heft können Sie hier bestellen.

Unsere Newsletter

Abonnieren Sie die HR-Presseschau, die Personalszene oder den HRM Arbeitsmarkt und erfahren Sie als Erstes alles über die neusten HR-Themen und den HR-Arbeitsmarkt.
Newsletter abonnnieren

Mia Pankoke

Mia Pankoke ist Redakteurin bei der Wirtschaftsredaktion Wortwert.

Kathi Preppner

Kathi Preppner ist Redakteurin in der Wirtschaftsredaktion Wortwert.

Weitere Artikel